Eine Rezension von Helmut Hirsch


Von der Macht der Gefühle in der Unordnung der Welt

Goffredo Parise: Alphabet der Gefühle

Mit zwei Nachworten von Natalia Ginzburg. Aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim und Dirk J. Blask.

Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1997, 334 S.

Goffredo Parise (1929-1986) ist ein phantasiereicher Erzähler, der mit etwas Verspätung erst jetzt für den deutschsprachigen Buchmarkt durch den Berliner Wagenbach Verlag entdeckt wird. Vor kurzem war es der Roman Der Padrone, jetzt, in vorzüglicher Ausstattung, das wunderbare Lesebuch Alphabet der Gefühle. Das sind Geschichten, die mit und auch ohne Gefühl gewürzt sind. Dem italienischen Alphabet folgend, wurden Stichworte genommen, die einen Kosmos von Geschichte und Geschichten, von Figuren, Landschaften, Ereignissen und Leidenschaften umschließen. 1972 und 1982 hat Parise unter dem Titel Sillabario, so heißt im Italienischen das Alphabet, Kurzgeschichten in zwei Bänden veröffentlicht, die jetzt erst den steinigen Weg über die Alpen nach Deutschland gefunden haben. Schon die erste Geschichte fesselt den Leser. Da will ein Mann seiner Frau endlich gestehen, daß das Zusammenleben keinen weiteren Sinn habe, wird aber immer wieder durch die kleinen Dinge des hereinbrechenden Alltags daran gehindert, dies auszusprechen. Dabei ist er doch stets ganz nahe dran, schon ist der Halbsatz, der die Enthüllung bringen soll, ausgesprochen, da fährt ihm die Frau, womöglich ahnend, daß da etwas bevorsteht, was auch ihr Leben schrill verändern könnte, dazwischen. Schließlich gibt er es auf, selbst schon genervt, denn „er wußte nicht, was er sagen würde, er wußte aber, daß er es sagen würde“. Wunderbar beobachtet, und so endet diese Kurzgeschichte mit dem Eingeständnis der Unmöglichkeit einer Trennung. Es bleibt dabei, bei der gedachten Trennung. Lapidar, als sei nichts gewesen und als stünde nie etwas in Gefahr und somit zur Debatte, lautet der Schlußsatz: „Er stand auf, ging zu ihr, küßte sie auf die Schläfe und verließ das Zimmer.“

Affetto/Zuneigung heißt diese Geschichte: Italienisch/Deutsch.

Es ist ganz zusätzlich noch wundersam, daß das hier verhandelte und zu keiner Wende gebrachte Thema bei den Italienern, weil es das italienische Alphabet so will, am Anfang figuriert. Im Deutschen, kundigen Lesern und Lebenserfahrenen dazu sage ich nichts neues: Hier rangiert dieses Thema - Zuneigung - am Ende des Alphabets.

Die Geschichten dieses Buches sind alle wunderbar. Ganz sparsam wird eine Szene gezeigt, in der kleine Welten, immer die Welt ganz unterschiedlicher Menschen, in Beziehung zueinander treten. Nicht immer sind es Gefühle im ganz individuellen Sinne, nicht plötzliche Regungen oder angestaute Erregungen. Parise sammelt auch ganz andere Stichworte in seinem Geschichten-Alphabet. Dazu gehören Fame/Hunger, Poverta/Armut, Guerra/Krieg, aber auch Casa/Haus, Cinema/Lichtspielhaus, Mare/Meer, Sogno/Traum oder Roma/Rom. Duchgehend ist, daß in jeder Geschichte, sei es in Rom oder am Meer, mit der Nennung eines Tages, manchmal auch des Monats oder des Jahres begonnen wird. Damit schafft Parise mit dem ersten Satz bereits die Atmosphäre einer Jahreszeit. Die Geschichte Italia/Italien beginnt an einem Tag im September: „In einer Luft, die nach Kühen und Wein roch, heirateten zwei Italiener namens Maria und Giovanni in einer romantischen Kirche, die schon von kühler Luft erfüllt war, mit Resten hoher Fresken an den Ziegelmauern...“ Italienliebhaber wissen, was ich meine, da sind schon auf knappstem Raum der ganze Reichtum, die unendliche Pracht der Farben, der Gerüche, der Töne, die Schwingungen der Luft und des Lichtes enthalten.

Die folgende Geschichte skizziert das Leben zweier Menschen, kurz, aber intensiv. Vom Tod wird berichtet, aber auch vom Überleben ist die Rede. Denn beide hatten auch Kinder, die wiederum schon längst Kinder hatten. Der Sohn Francesco hatte eine Tochter, sie hieß wieder Maria wie ihre Großmutter, und so endet die Geschichte mit dem vielsagenden Bild: „Wie sie hatte sie kleine korallenfarbene Lippen und ganz weiße Zähne.“

Das sind Geschichten, mit wenigen Worten wird alles gesagt, entstehen Bilder, die der Betrachter assoziativ-emotional miterlebt. Bilder vom Leben in Italien.

Nicht immer Erfreulichkeiten sind es, auch Not, Gewalt, Nötigung und Tod gehören dazu. Das Alphabet der Gefühle ist ein Buch des Lebens, der Leidenschaften, der leuchtenden Bilder, seltsamer Begegnungen, hintergründiger Wandlungen, überraschender Eingeständnisse. Und es beginnt fast immer ganz harmlos: „Eines Tages lernte ein Mann im Haus von Freunden eine junge Frau kennen...“ Amore/Liebe ist im Spiel, aber die Frau heiratet einen anderen, doch hier geht es dem Erzähler darum, das Gefühl der Liebe, oft beschrieben und fast immer mißlungen, mit ganz wenigen Worten festzuhalten: „Aber das Gefühl, das er und die junge Frau empfunden hatten (und das hier beschrieben ist), war von der Art, daß sie, ohne es zu wollen oder davon zu wissen, in so kurzer Zeit einige Jahre ihres Lebens gelebt und in den Wind gestreut hatten.“

Diese Geschichten kommen mit ganz wenigen Namen aus, fast immer nur Vornamen, oft nur einfach „Mann oder Frau“. Es scheint, als spreche die Gattung aus den vorbeieilenden, davonhuschenden Figuren des Erzählers Goffredo Parise. Oft sind es nur Blickwechsel, einmal mit lang anhaltenden, dann wieder mit schnell versiegenden Wirkungen. Energien werden freigesetzt durch Gefühle, sehr leidenschaftliche und doch nicht haltbare, verschwiegenere, die eine Unendlichkeit dauern. Kontraste und Überraschungen erwarten den Leser, denn der Titel einer Geschichte verspricht manchmal was ganz anderes, als der Inhalt offenbart. In Anima/Seele ist von Hunden die Rede, und Bobi, der seinem Herrn treu ist, während jener wie ein räudiger Hund durch die Welt streift, verdient den Satz: „Hunde haben eine Seele.“

Kleine Leute erhoffen sich viel vom Leben oder vom Urlaub, schrauben ihre Erwartungen noch höher und werden bitter enttäuscht. Erhoffte Abenteuer bleiben aus, und Alpträume geistern durch den Alltag nie ganz zufriedener kleiner Leute. In der Geschichte Roma/Rom nimmt dies groteske Züge an. Hier fällt einem Mann auf, der lange Zeit nicht in der Stadt gewesen ist, daß alles ganz anders ist. Rom ist von Afrikanern bevölkert, Römer gibt es nicht mehr, Unheil und Spuren gewaltsamer Verdrängung werden angedeutet. Parise hat vielleicht von den Wanderungen in Richtung Norden geträumt, und er kannte den Satz, wonach an der Südspitze Italiens schon Afrika beginne. Dann gibt es noch Bilder der Erinnerung aus der Zeit der deutschen Okkupation, Verfolger und Verfolgte, auch deren Situation wird eindringlich geschildert, sei es in der sekundenhaft begrenzten Beobachtung oder im aufkeimenden Gefühl eines noch unerfahrenen Kindes.

Das Alphabet der Gefühle gehört zu den besten Büchern, die in den letzten Jahren aus Italien kamen. Die Poesie der menschlichen Existenz wurde selten so prägnant erzählt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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