Eine Rezension von Dominik Wohlraabe


Frankreichs Schicksal

Robert Merle: Das Königskind

Roman. Aus dem Französischen von Christel Gersch.

Aufbau-Verlag, Berlin 1998, 478 S.

Vier Bände liegen bei Aufbau bereits in deutscher Übersetzung vor, ein sechster ist in Vorbereitung: Das Königskind ist der fünfte Teil der Romanfolge Fortune de France, eines großangelegten Werkes über eine dramatische Epoche der französischen Geschichte: die Zeit der Religionskriege. Sie umfaßt den Zeitraum von 1550 bis 1617 und die Herrschaft dreier Könige: Heinrich III., Henry Quatre und Ludwig XIII. In diesen Abschnitt fällt die Geschichte von drei Generationen der Adelsfamilie Siorac, beginnend auf Burg Mespech im Périgord und dann zum Pariser Hof überwechselnd.

Band fünf beschreibt die sieben Jahre von der Ermordung Henry Quatres durch Ravaillac bis zur Machtübernahme durch den sechzehnjährigen Thronfolger Ludwig XIII., dessen dramatische Jugend erst durch seinen Staatsstreich beendet wird, mit dem er sich rechtmäßig die Macht aneignet, die ihm von seiner Mutter, der machtbesessenen, aber schwachen und leicht beeinflußbaren Maria von Medici, vorenthalten wurde. Sein Erster Kammerherr Pierre-Emmanuel de Siorac ist einer seiner treuesten und verschwiegensten Freunde, die - trotz ihrer geringen Zahl - seine Thronbesteigung erst möglich machen.

Das große Werk Henry Quatres, die Toleranz von Katholiken und Protestanten, war durch die Herrschaft Maria de Medicis in Gefahr geraten, jene Kräfte hatten Oberwasser gewonnen, die im Blutrausch der Bartholomäus-Nacht einst Tausende von Hugenotten abgeschlachtet hatten. Das mächtige Frankreich ist durch die unglaublichen Ränke der eigentlichen Herrscher - des italienischen Günstlingspaares Concini - nahezu unregierbar geworden, sein für den Kriegsfall als Abschreckung angehäufter Kronschatz für Nichtigkeiten ausgegeben. Am Hofe herrscht bereits barocke Üppigkeit, Intrigen werden gesponnen, jeder bespitzelt jeden. Inmitten dieser Welt der Kälte und des Überschwangs sucht der mit neun Jahren schon frühzeitig gereifte Thronfolger nach Liebe und Verbündeten und führt gleichzeitig eine verwirrende Existenz, ist Kind und doch im tiefsten Innern schon Herrscher. Wir erleben die Zufälligkeiten und Unwägbarkeiten historischer Entwicklungen ebenso hautnah mit wie die logischen Konsequenzen von Handlungen, die der menschlichen Natur zuwiderlaufen.

Der nunmehr neunzigjährige Merle, der nach Aussage des Verlages „den Wortlaut des Edikts von Nantes ebenso gut kennt wie den Käsepreis auf dem Pont-Neuf oder die Dessous einer Hofdame“, entwirft ein grandioses Panorama dieser Zeit, in dem das belangloseste Detail mit derselben Liebe und Sachkenntnis beschrieben ist wie die großen historischen Entwicklungslinien. Wortmächtig bedient er sich einer dem Sujet entspringenden blumenreichen Sprache, die im Original wunderschön zu lesen sein dürfte und von Christel Gersch kongenial übertragen wurde. Was jedoch im Urtext von vornherein Wohlklang und Eleganz bedeutet, ist durch die anders gearteten Sprach- und Sprechgewohnheiten im Deutschen zunächst gewöhnungsbedürftig, zieht den Leser aber zunehmend in seinen Bann.

Bezieht sich der Autor im Text selbstverständlich auch auf die vorangegangenen Bände, so läßt sich jeder doch durchaus als Einzelwerk lesen. Den großen Zusammenhang und ultimativen Lesegenuß wird man aber nur aus der Lektüre der gesamten Romanfolge beziehen, die Merles bedeutendstes Gegenwartswerk darstellt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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