Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold


Eine brillante Breitseite

Jürgen Lodemann: Muttermord

Roman.

Steidl Verlag, Göttingen 1998, 312 S.

Ein Kriminalroman? Keineswegs. Überhaupt fehlt es hier an einem Mord im strafrechtlichen Sinne. Was da am Schluß der Handlung, am Ende von drei Handlungstagen, zu lesen steht, ist der Exitus einer achtzigjährigen Mutter, deren religiöser Halt von ihrem langentbehrten Sohn verbal derart attackiert wird, daß sie vor Aufregung einem Herzstillstand erliegt. Dem Sohn ist es sehr recht, enthebt es ihn doch des vorbereiteten Giftmordes. Schockiert ist er dennoch. Genügend Stoff für ein Strafrechtsseminar höherer Semester, für Ausdeutungen durch Freudianer oder für einen abendfüllenden Fernsehpsychothriller.

Der Journalist, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Lodemann hat allerdings ein ganz anderes, weitergehendes Anliegen. Er will der heutigen gutbürgerlichen Gesellschaft der Bundesrepublik einen Spiegel vorhalten. Beileibe keinen, der eine Totale zeigen soll - der Autor weiß wohl, daß dies unmöglich ist, und er weiß sehr wohl, was er zeigen kann, damit die Ausschnitte beispielhaft fürs ganze Bild sprechen, Pars pro toto. Seine Beispiele zielen auf die bourgeoise Familie mit ihrer Tradition des gut und besser Verdienens, am besten durch Fabrikation von Kriegsgerät und Handel mit Waffen für Kaiserreich und Nazireich und heute für eine globalisierte Klientel; sie zielen auf verlogene Erziehungs- und Umgangsformen in der von Patriarchen beherrschten Sippe, die von angepaßten Müttern zusammengehalten wird; sie zielen nicht zuletzt auf das historische Versagen der beiden großen Kirchen in Deutschland, die seit jeher Glauben predigen statt Denken zu lehren. Über Mütterchens katholische Kirche vor allem gießt der Sohn kübelweise geschichtsnotorische Wahrheiten aus, spricht gar von „dieser perfektesten aller Terrorbanden“.

Eigentlich ist der Roman ein Zwei-Personen-Stück. Man könnte ihn sich für die Bühne bearbeitet vorstellen. Auftreten ein nestgeflüchteter, nun arrivierter Sohn aus gutem Haus, der nach 27 Jahren in die Villa der Familie zurückkehrt, eine zur Nazizeit arisierte Villa, und seine dort einzig übriggebliebene Mutter. Der sich entwickelnde Dialog von Mutter und Sohn ist die eigentliche Handlung. Die vom Sohn als Ich-Erzähler wiedergegebene Zwiesprache ist darauf angelegt, drei Generationen der Familie Legrand vorzuführen, Lebensläufe mit verteilten Rollen zu kommentieren, Geschichten zu erzählen und Geschichte zu interpretieren, Familiengeschichte und deutsche Geschichte. Durchaus unterschiedliche Sichten werden geboten, Mutter und Sohn stimmen nur selten überein, die im Gespräch geäußerten Ansichten und die eingestreuten Gedanken des Sohnes geraten zur Abrechnung mit der Eltern- und Großelterngeneration. Nach den Regeln der bürgerlichen Moral hat der Sohn den Vatermord bereits vor Jahrzehnten vollzogen, als er die Familie verließ, um nicht am Herrn Vater zu ersticken, der seinerseits den Weggang des unbotmäßigen Sprößlings mit einem finalen Infarkt quittierte.

Keine Gnade für die Familienidylle, die verlogene, unerträgliche, deren sanfter Verführung der gealterte Sohn noch immer ein wenig verfällt, auch nach so langer Zeit. Er erinnert sich an „je drei Silberbestecke zu beiden Seiten des Maria-Weiß-Porzellans, auch wenn es nur einen Gang gab“, es heimelt ihn an und es kotzt ihn an. Keine Gnade auch für die Mutter: „Lebenslang tappte sie in die jeweils gültige Wahrheitsfalle... Sie jedenfalls glaubte mit beachtlicher Willenskraft, anfangs womöglich mit Riefenstahlrasanz, glaubte jeweils das, was gerade so angeboten wurde als Paradies, als Reich oder Heil. Hirngerissen hingerissen.“ Keine Lektüre zum Muttertag.

Immerhin billigt der Autor, um Differenzierung bemüht, dem durchaus gebildeten Mütterchen auch beachtliche Erkenntnisse zu, läßt es von einer „amerikanischen Betäubungskultur“ sprechen, in der man heute lebe und mit der es nichts zu tun haben wolle. Politikverdrossenheit bringt die Mutter gleichfalls zum Ausdruck: „Seit so vielen Jahren schon regiert uns derselbe riesendicke Kanzler. Spätestens seitdem ertrag ich sie einfach nicht mehr, die politischen Meldungen.“

Als weitere Dialogperson, obwohl körperlich nur kurz anwesend, tritt der Herr Pfarrer auf, in dessen Wahrheitsfalle die alte Frau schon seit langem getappt ist, was die Religion betrifft. Durch die alte Dame erfahren wir, daß ihre nunmehr einzige Autoritätsperson sowohl geweihten Rauch wider das Denken verbreitet als auch beachtliche Gedanken wider den Zeitgeist äußert. Seine Gesellschaftskritik referiert das Mütterchen offenbar etwas unsicher, ob dergleichen in allen Punkten zu akzeptieren sei. Andererseits, wenn es der Herr Pfarrer sagt ... Köstlich zu lesen, wie der Sohn immer wieder - ach so unbotmäßig und voller Ironie - die Äußerungen der Mutter und die Ansichten des geistlichen Herrn kommentiert, die durch Mütterchens Mund verkündet werden.

Nebenbei bekommen der Ort der Handlung, Baden-Baden, und der nun schon ehemalige Südwestfunk ihr Fett weg. Die Sender verlottern, sind Krachfunk und Zappelfernsehen. Lodemann, der beim SWF gearbeitet, den Dichterclub moderiert und die Bücher-Bestenliste kreiert hat, kennt sich in „Pensionopolis“ aus, in der „Goldinsel“ Baden-Baden, „in diesem schauderhaften Abseits, wo in Deutschland die meisten Millionäre hausen“, 65 pro zehntausend Einwohner, in Hamburg sind’s nur 28.

Das Buch ist eine Breitseite gegen geldmachendes, scheinheiliges, skrupelloses Bildungsbürgertum. Wem die Jacke paßt ... Es ist eine brillante Breitseite, Lodemann weiß sein Deutsch zu meistern, es zu verdichten. Manches, wenn er das Spiel mit der Sprache ein wenig überzieht, erinnert an Heinrich Manns „Schlaraffenland“, obgleich hier kein Gnuber gnaubelt. Immerhin Anklänge, subjektiv empfunden: „Füllte in der Küche die Goldrandige. Überm Kühlschrank der Kirchen-Kalender ... Trug den Krug zurück in den Salon und sah, wie sie sich verheddert hatte am Knoten der Blumenfrau, für einen kurzen Moment hab ich das genossen, Queen Freddy krähte durchs Querfell und rief sein play the game, mit Spinkelfingerchen wibbelte Madame im Verknoteten.“ Erheiterndes Gegenstück, ein sprachliches Kabinettstück für sich, die seitenlange Wiedergabe eines Berichts, den zwei dümmliche Dortmunder Helfer des heimgekehrten Sohnes in Doatmunder Mundart geben. Gut, daß es solche gute Literatur aus deutschen Landen gibt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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