Eine Rezension von Hans-Rainer John


Pius IX., die Inquisition und die Mörder Christi

David I. Kertzer: Die Entführung des Edgardo Mortara
Ein Kind in der Gewalt des Vatikans.

Carl Hanser Verlag, München/Wien 1998, 520 S.

Wahrscheinlich waren es nicht nur diplomatische Erwägungen, die Papst Pius XII. veranlaßt hatten, sich zu verweigern, als er - 1942 von Hitlers Endlösung der Judenfrage unterrichtet - bedrängt wurde, seine Stimme einhaltgebietend oder zumindest protestierend zu erheben. Möglicherweise war seine Haltung nämlich auch von der traditionell antisemitischen Haltung der katholischen Kirche bestimmt, an die David I. Kertzer in seinem Buch erinnert.

Kertzer geht auf die Zeit zurück, als der Oberhirte der katholischen Kirche nicht nur geistlicher Führer war, sondern auch die weltliche Herrschaft über einen Staat ausübte, der mit Emilia-Romagna, Umbrien, Marken und Latium einen großen Teil Italiens umfaßte. Seit dem sechzehnten Jahrhundert wurden die Juden dort als die verachtenswerten Mörder Christi von dem Fluch Gottes verfolgt, der sich von seinem erwählten Volk abgewendet hatte, entweder ausgewiesen oder in Ghettos gesperrt. Sie durften weder Grund noch Gebäude besitzen, keine Begräbniszeremonien durchführen, keine Beziehungen zu Christen unterhalten, keine Christen für sich arbeiten lassen. Sie wurden durch deutliche Merkzeichen an der Kleidung stigmatisiert, hatten jede Woche einer Predigt beizuwohnen, die den Judaismus als Irrglauben beschimpfte und den Katholizismus als alleinseligmachende Religion pries. Während des Karnevals mußten sie sich, in kurze Hosen gekleidet, öffentlich verspotten lassen usw. Bis zum Zusammenbruch des Kirchenstaates 1859 wachte die Inquisition streng über die Einhaltung der entwürdigenden Regeln.

Einige davon hatten bereits gelockert werden müssen, nachdem französische Soldaten 1796/97 mit dem Ruf „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ die italienische Halbinsel erobert und die Tore der Ghettos niedergerissen hatten. Gleichwohl blieben die Juden nach Wiederherstellung des Kirchenstaates, die durch die Bajonette österreichischer und französischer Truppen erfolgte, Außenseiter (obwohl sie in Italien gelebt hatten, bevor es dort Christen gegeben hatte) und demütige Bittsteller in ungesicherter Lage, darauf bedacht, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen.

Das galt vor allem für Bologna, seit 1593 eine für Juden verbotene Stadt. Erst nach der Eroberung durch die Franzosen siedelten sich einige Juden wieder an, zweihundert vielleicht, meist Händler. Nach Wiederherstellung des Kirchenstaates war ihre Lage extrem gefährdet, ein gesichertes Bürgerrecht hatten sie nicht. Wer es sich leisten konnte, unterhielt ein katholisches Dienstmädchen. Das wurde Momolo und Marianna Mortara, kleinen Ladenbesitzern, und ihren sieben Kindern zum Verhängnis.

Am 23. Juni 1858 betrat nämlich eine Gruppe Polizisten ihr Haus und packte den knapp siebenjährigen Edgardo. Ungeachtet aller Proteste von Familie und Verwandten wurde der Junge in eine Kutsche gesteckt und nach Rom in ein spezielles Kloster zur Umerziehung gebracht. Erst nach und nach wird klar, daß ihn vor nahezu sechs Jahren ein Dienstmädchen heimlich getauft hatte, um seine Seele zu retten, als er gefährlich erkrankt war. Durch einen Zufall hatte die Inquisition erst jetzt davon erfahren und sofort, nach Rücksprache mit dem Vatikan, zugegriffen. Der Einsatz physischer Gewalt galt als durchaus legitim, wenn es darum ging, getaufte jüdische Kinder von ihren Eltern zu trennen. Es war nicht der erste derartige Fall, es war beileibe nicht der einzige, aber es war derjenige mit den gravierendsten Folgen. Fast könnte man sagen, daß er dazu führte, daß Papst Pius IX. seine weltliche Herrschaft verlor.

Natürlich wehrten sich die Mortaras mit allen Kräften gegen den unerwarteten Kindesraub, aber ihre Bitten, Eingaben und Gesuche blieben ungehört. Die Presse griff den Fall auf, und die Liberalen und Freimaurer ergriffen für die Mortaras Partei. Die Juden organisierten den Protest unter ihresgleichen weltweit, und die Empörung wallte auf bis nach Amerika. Monarchen und Diplomaten vieler europäischer Länder intervenierten beim Vatikan, aber Pius IX. hielt am Dogma fest. Er blieb starr und verstand nicht die Zeichen der Zeit. Seit der Jahrhundertwende war der Kirchenstaat nämlich nicht mehr unumstritten. Schon zweimal hatten Päpste aus Furcht vor ihrem Volk aus Rom fliehen müssen, und auch jetzt existierte der Staat nur dank fremder Truppen. In Italien griff die Einigungsbewegung um sich, die ein unabhängiges Königreich unter Victor Emanuel II. anstrebte und Sardinien, Sizilien, die verschiedenen Herzogtümer und den Kirchenstaat zu vereinigen suchte.

In diesem aufgewühlten Umfeld wurde der Fall Mortara zum Fanal. Angesichts des halsstarrigen Papstes verloren die Monarchen Europas die Geduld. Als Österreich seine Truppen aus Bologna abzog, fiel die Emilia-Romagna von Rom ab und jubelte Victor Emanuel zu. Als Napoleon III. seine Truppen aus Rom abzog und ihnen gestattete, an die Seite Victor Emanuels zu treten, brach der Kirchenstaat zusammen.

Die späte Rache der Kirche bestand darin, daß die Rückkehr des Edgardo in den Schoß seiner Familie, die nun theoretisch möglich geworden wäre, nicht stattfand. Edgardo, inzwischen zum Priester erzogen, bekannte sich zum Katholizismus, floh seine Eltern und zog sich in ein österreichisches Kloster zurück.

Kertzer (50), geboren in New York, Dozent für Soziologie, Anthropologie und Geschichte an der Brown Universität in Providence, hat gründlich recherchiert. Aus Presseartikeln, Memoranden, Gutachten, Gerichtsprotokollen, Briefen und Augenzeugenberichten hat er einen in sich abgeschlossenen Fall extrahiert, der in seinen verzweigten Abhängigkeiten ein ganzes Jahrhundert besichtigen läßt. Entstanden ist kein Roman, sondern ein durchaus ausgeglichenes wissenschaftliches Werk mit Apparat (Zeittafel, Anmerkungen, Bibliographie, Verzeichnis der Archive und Quellen, Namensregister), aber dank außergewöhnlicher erzählerischer Fähigkeiten und sprachlicher Ausdruckskraft des Autors ist es trotzdem lebendig, anschaulich und stellenweise spannend. Historische Fakten in erzählerischer Form, ein Geschichtswerk, in dem eine Geschichte erzählt wird - welch glücklicher Kasus. Nur Leser in Zeitnot werden eine gewisse Behäbigkeit und zu große Ausführlichkeit bemängeln -, aber welcher echte Forscher würde nicht alle seine Entdeckungen ungekürzt ausbreiten, und sei es um den Preis der Wiederholung? Die sprachliche Brillanz versöhnt mit der Breite der Darstellung wohl auch dort, wo sie überzieht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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