Eine Rezension von Helmut Fickelscherer


Vom Sinn im Wahnsinn

Einar Már Gudmundsson: Engel des Universums

Roman. Aus dem Isländischen von Angelika Gundlach.

Carl Hanser, München 1998, 196 S.

Wie ein riesengroßes, düsteres Schloß liegt Reykjaviks Irrenanstalt - mit dem auch für deutsche Leser einprägsamen Namen Kleppur - am Meer. Und dieses Bild bestimmt immer wieder das Geschehen im Roman des bekannten isländischen Autors Gudmundsson (Jahrgang 1954), dessen Bücher in mehrere Sprachen übersetzt sind und der in Deutschland bereits mit dem Titel Die Ritter der runden Treppe (1988) verlegt worden ist.

Gudmundsson widmet seinen Roman dem 1992 verstorbenen Bruder Pálmi, der viele Jahre seines Lebens als Patient in Kleppur zugebracht hat. Pálmi Orn Gudmundsson heißt im Buch Páll, welcher am 22. April 1949, an dem Tag des Beitritts Islands zur NATO, geboren wurde und als Ich-Erzähler sein Leben Revue passieren läßt: „Ich schreibe mein eigenes literarisches Werk... ich springe von einem zum anderen, ganz nach eigenem Gutdünken, und orientiere mich weder an literarischen Vorschriften noch absolvierten Geisteszustandsuntersuchungen.“ Und noch ein Merkmal: Páll verfaßt den Lebensbericht erst nach seinem Tode. Dieser Kunstgriff verleiht dem Buch eine bemerkenswerte Transzendenz, eine Einheit von Nähe und Distanz, letztlich von Vernunft und Wahnsinn, bei fließenden Grenzen.

Páll berechtigt als Junge - wie man so sagt - zu den schönsten Hoffnungen. Seine Eltern - der Vater ist Taxifahrer, die Mutter stammt aus einer angesehenen bäuerlichen Familie - können mit den Kindern, als Zeichen eines bescheidenen Aufstiegs, aus der Kellerwohnung in eine Wohnung in einem mehrstöckigen Haus ziehen. Páll ist ein kleiner Junge, auch künstlerisch begabt; allerdings fällt schon früh seine hohe Sensibilität auf. Ein erster Kontakt mit der Umwelt geht negativ für ihn aus: Als er vertrauensvoll die Hand durch den Zaun streckt, beißen ihn die Kinder auf der anderen Seite kräftig in den Finger. Und als er sich danach zu Hause im Spiegel betrachtet, stellt er fest: „Im Spiegel war jemand, doch das war nicht ich.“ Vielleicht frühe Anzeichen von Schizophrenie, ein Bruch in der Kinderpersönlichkeit, die nicht klarkommt mit der rauhen Wirklichkeit. Aber wer nimmt dergleichen schon ernst. Páll geht später aufs Gymnasium zu Reykjavik, auf die ,Bildungsstätte‘, die im Leben der Nation das höchste Ansehen genoß.“ Doch heftige Kopfschmerzen erschweren ihm das Lernen.

Die Geisteskrankheit wird letztlich ausgelöst durch die unglückliche Liebesbeziehung zu dem Mädchen Dagný, Tochter aus reichem Hause, deren Eltern es unbegreiflich finden, daß der Sohn eines Taxifahrers das Gymnasium besucht. Dagný rebelliert gegen das Elternhaus, aber diese Phase dauert nur kurz; schon bald bewegt sie sich wieder in „gewohnten Kreisen“ und bricht ihre Beziehung in Páll ab. Dieser überwindet die Trennung nicht, beginnt „die unsichtbare Hand zu spüren“, die ihn in den Wahnsinn zerrt. Er kapselt sich ab: An der Kunstschule, an der er unterdessen studiert, hält er sich mitunter für eine Reinkarnation von Gauguin oder van Gogh - „mir tut das Ohr weh“. Er tyrannisiert Eltern und Geschwister, irrt ziellos durch die Stadt, will auf einem Polizeirevier eine Kunstausstellung organisieren.

Schließlich greift man ihn auf und bringt ihn in die Irrenanstalt Kleppur, wo er mit Psychopharmaka vollgestopft wird. Und in dieser „pharmazeutischen Nebelwelt“ leben mit ihm die merkwürdigsten Patienten, die sich Engel des Universums nennen. Wie nicht anders zu erwarten, werden Stumpfsinnige und Schwachsinnige, da literarisch unergiebig, nur ganz am Rande erwähnt. Die Kleppur-Insassen sind krasse Individualisten: Da ist Pétur, der Archäologiestudent und Hobby-Sinologe, der in seinem Wahn glaubt, eine Doktorarbeit an der Pekinger Universität eingereicht zu haben; später verübt er Selbstmord. Und der harmlose Oli, der angeblich die Songs der Beatles geschrieben hat und nun auf Tantiemen wartet. Weit weniger harmlos ist Viktor, der mittels Adolf-Hitler-Schallplatten Deutsch gelernt und einen Kreditantrag bei der Landesbank mit „Adolf Hitler“ unterschrieben hat, was zu seiner Einweisung führte. Diminutiv nennt er Adolf „Dolli“: „Ja, ich weiß schon, daß Dolli Irre erschlagen ließ, aber beachte, daß er nur ausführte, was andere denken.“ Das wirkt schon makaber, und man möchte sagen: glückliche Insel Island, die (trotz englischer und amerikanischer Besetzung) relativ weitab vom schrecklichen Geschehen des Zweiten Weltkrieges und der Naziherrschaft gewesen ist. Dabei ist jedoch festzustellen, daß Neonazis in Island in Kleppur verwahrt werden.

Noch einmal verläßt Páll die Irrenanstalt. Es wirkt wie ein retardierendes Moment, als er in ein Invalidenheim, das in einem Hochhaus untergebracht ist, einziehen kann. Aber es ist zu spät für ihn - „draußen in der Kälte, die man Gesellschaft nennt“. Er übersteht mit seiner kleinen Invalidenrente einen eisigen Winter, auch den Überfall durch zwei Asoziale, die ihn berauben; aber im folgenden Sommer, als das Blau der Einsamkeit ans Fenster des Hochhauses klopft und draußen die geflügelte Zeit schwebt, nimmt er seine Bettdecke und springt in die Tiefe.

Sein Schulfreund Arnór, der Pastor geworden ist, beerdigt ihn, und Páll, der nun über den Dingen schwebt, bemerkt: „... soviel ich weiß, hat er diese Arbeit gut gemacht.“

Doch nicht alle machen ihre Sache gut. Rögnvaldur, einst ebenfalls Abiturient und Pálls Banknachbar auf dem Gymnasium, Sprachgenie und Spezialist für isländische Geschichte und Literatur, nimmt in Deutschland ein ungeliebtes Zahnmedizinstudium auf, weil sich Zahnarzt besser rechnet, kehrt nach Island zurück, gründet Familie und Praxis, baut ein Haus und nimmt sich das Leben. Und Rögnvaldur war als Suizidgefährdeter nicht in Kleppur; aber ist Kleppur nicht überall?

Die Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn verwischen sich mitunter in einer Zeit des isländischen Aufbruchs in eine fragwürdige Moderne. So wird Pálls Geburt am Tag des Eintritts Islands in die Nato, an dem die ansonsten im Buch als überraschend vernünftig geschilderte Polizei wütend gegen Protestierer vorgeht, zum Symbol für eine Entwicklung, die das Inseldasein beendet. Bald wird in Reykjavik eine Drogenpolizei eingerichtet, es gibt Schlägereien mit Punkern, auf den Straßen trifft man „toughe Typen“ (tatsächlich wird dieser Ausdruck verwendet), die Gesellschaft polarisiert sich auf neue Weise.

Einar Már Gudmundsson erzählt in seinem Roman facettenreich und vielschichtig von diesen Wandlungen. Er steht dabei in der Tradition großer isländischer Erzähler. - Nicht zufällig kennt Pálls unglücklicher Freund Rögnvaldur weite Passagen von Halldór Laxness’ Weltlicht auswendig. - In einer kunstvollen und poetischen Verknüpfung von individuellen Sichten und Wirklichkeiten, von Wahnbildern und tiefen Einsichten ist ein unterhaltsames Buch entstanden, das zu Recht mehrmals preisgekrönt wurde.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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