Eine Rezension von S. T. Plauen


Große Sprachspiel-Wiese und Feuerwerk schwuler Erotik - Christoph Geisers neues Buch

Christoph Geiser: Die Baumeister

Eine Fiktion.

Nagel & Kimche, Zürich/Frauenfeld 1998, 264 S.

Das bisherige Werk des seit 1968 auf dem literarischen Parkett präsenten Christoph Geiser gilt als eines der wenigen, das sich durch eine konsequente Fortentwicklung auszeichnet. Und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb gibt es den Schriftsteller Christoph Geiser - wenn man so will - (mindestens) gleich zweimal. Zum einen als jenen, der bis ca. 1984 (groß-) bürgerliches (Schweizer) Leben als Nicht-Leben aufzeigte, der - von der Kritik versehen mit Attributen wie verhalten, diskret, leise, behutsam - gegen Ängste, Flucht, Konventionen, Grenzen, Schweigen anschreibt und der diese „Schreibtischtäterschaft“ dem rätselhaften Selbstmord seines Cousins 1967 entgegensetzt, weil - wie er 1983 äußerte - „das Verschweigen auch für mich hätte lebensgefährlich werden können“. Zum anderen gibt es jenen Christoph Geiser, der seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre die zuvor nur angedeutete homosexuelle Identität seiner Ich-Erzähler in den Mittelpunkt rückt, der erotische Wünsche und Obsessionen in Sprache und Bilder faßt und schreibend auslebt (was für den interessierten Geiser-Leser in der ehemaligen DDR das Nichterscheinen des Geheimen Fieber bedeutete und für Geiser selbst ein zunehmend - auch - anderes Lesepublikum in der Schweiz, der Bundesrepublik und in Österreich).

Aus der erlebten und anfangs literarisierten Konfrontation von Wunsch und (gesellschaftlicher) Wirklichkeit ist also immer stärker die literarisierte Integration von Wünschen in eigene (Kopf-)Welten geworden. Und genau da schließt Geisers neuer Text, bei dem es sich wiederum um einen großen Monolog handelt, an. Vielschichtig in den Bildern, Gedanken, Ideen, Wünschen, Phantasien und Sprachen sind Die Baumeister ein nicht enden wollender Redestrom, den man allerdings vor sich sehen und - wenn möglich - auch wenigstens einmal teilweise hören muß. Ausgangspunkt ist eine Radierung aus Giovanni Battista Piranesis (1720-1778) Carceri-Blättern (1745ff., spätere Fassung 1760ff.), die Geisers Redender eingehend betrachtet. Mit dem dreimal vergrößernden Leseglas in der Hand versucht er, soviel wie möglich in diesem geheimnisvollen Kerker-Konstrukt aus Strichen, Schattierungen und Schraffierungen zu entdecken und gerät gerade dadurch vermittels der eigenen Phantasie immer stärker selbst hinein in das, was in seinem Kopf aus dem Bild wird: ein ständig wechselndes, von einem ins andere übergehendes Szenario aus Angst und (Woll-) Lust, aus Lärm und Stille, aus Nichts und Allem. So ist das Bildobjekt und Kopfprodukt denn auch mal Kerker, mal Baustelle, mal Hölle mal sado-masochistisches Lustparadies, mal Objekt der Baukunst, mal versteinerte Leere, mal Vergangenheit von Colosseum bis Gehrock, mal Gegenwart von Abwicklung bis Postmoderne - kurz: neben vielem anderen auch ein Sammelsurium des Paradoxen. Stärker als in diesem I. Teil, „Inferno“, entwirft und verwirft der Redende im II. Teil, „Purgatorio“, das Objekt seiner Begierde - das Idealbild eines männlichen Jünglings, dem er im III. Teil, „Paradiso“, die Utopie einer Insel als glückseligmachenden „erotischen Raum“ versucht hinzu zu erfinden. Das alles geschieht im Kopf, wobei das anfängliche Reden aus der Ohn-Macht des Nicht-einmal-mehr-die-eigene-Welt-Bauens immer stärker zum Reden ums Über-Leben wird. Frei nach dem Motto: Solange ich rede bin ich. Daß dieses Reden immer häufiger zum außer Kontrolle geratenen Gerede wird, liegt in der Sache der Dinge.

Und spätestens an diesem Punkt kann und wird es passieren, daß sich die Lese-Geister aus verschiedenen Gründen scheiden. Denn: Was hier zwischen zwei Buchdeckeln „geboten“ wird, ist sowohl ein Text als auch unzählig viele, ist Fiktion und - wie es heißt - „Ficktion“, ist Sprachprotokoll einer vielschichtigen Angst wie einer nicht ohne Komik bleibenden Befreiung, ist Utopie und Alptraum, ist riesiger Rederausch wider die eigene Ohnmacht, Bedeutungslosigkeit, Nichtexistenz und inhaltsreiches Ideenwerk über das sogenannte „Leben“ im „Jammertal“, über Architektur, Natur, Gefängnis, Folter, Sexualität, ist Vergrößerungsglas für die Inhaltsträchtigkeit einzelner Wörter wie die Hohlheit und Unmenschlichkeit nicht weniger (Un-)Wörter und Wendungen, ist geistvoll-sprühendes Inventarisieren, Ironisieren alter und neuer Sprachmittel sowie respektvoll-respektloser Umgang mit einer gigantischen abendländisch-westlichen Bildungslast, ist Selbst- und Weltbetrachtung und vieles andere mehr.

Leichtgemacht also wird es dem (selbst als Baumeister geforderten) Leser nicht in diesem (handlungslosen) Wörter- und Ideenkonvolut aus Suchen und Finden, Aufnehmen und Wegstoßen, sogenannten „guten“ und „schlechten“ (weil obszönen) Wörtern, „gehörigen“ und „ungehörigen“ Bildern und Phantasien. Die Gründe dafür, daß so mancher sich schwer- tun mag mit der Lektüre, sind vielfältiger Natur. Sie haben etwas zu tun mit eigenen Erwartungshaltungen an „die“ Literatur, mit eigenen inneren Barrieren bzw. Tabuzonen, mit eigenen Erfahrungen, eigenem Selbstbewußtsein und nicht zuletzt auch mit dem eigenen Zeitfonds. Letzterer sollte ruhig etwas größere sein beim Zur-Hand-Nehmen der Baumeister, denn es kann durchaus passieren, daß sich der Leser in diesem Hin und Her aus Sprudeln und Sprengen, in diesem Fluß aus Einreden, Wegreden, Ausreden, Verreden, Zureden, Gegenreden wie in einem Irrgarten verläuft oder verliert. Wenn es hierbei zwischendurch oder am Ende noch dazu kommt, daß er sich „in der eigenen erfundenen Biographie, denn jede Biographie ist durch und durch erfunden (egal welche) - Schall und Rauch! - auf einmal nicht mehr aus kennt“, dann hat sich auch der lesende Baumeister vielleicht ein wenig von den (eigenen) Ängsten befreit und ist offen für das, was dieses Buch auch ist: ein subtiler Spielplatz der Freude, der Lust, des Schmunzelns und des (großen) Lachens.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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