Eine Rezension von Gisela Reller


Ein Autodidakt zeit seines Lebens

Joseph Brodsky: Haltestelle in der Wüste

Gedichte.

Zweisprachig. Aus dem Russischen übertragen von Ralph Dutli, Felix Philipp Ingold, Alexander Kaempfe, Sylvia List, Heinrich Ost, Birgit Veit. Herausgegeben von Ilma Rakusa.

Suhrkamp Verlag (Bibliothek Suhrkamp), Frankfurt/M. 1997, 136 S.

 

Joseph Brodsky, 1940 in Leningrad geboren, ist der Sohn russisch-jüdischer Eltern. Die Schule verläßt er nach Abschluß der 8. Klasse, was er seinen „ersten freien Willensakt“ nennt, und arbeitet als Maschinist an einer Fräsmaschine. Zur gleichen Zeit bringt er sich selbst Polnisch und Englisch bei. Mit achtzehn Jahren fängt er an, Gedichte zu schreiben, widmet sich bald schon ganz dem Schreiben und Übersetzen - ohne irgendwo irgendwas studiert zu haben. 1963 erscheint in einer Leningrader Zeitung ein Artikel, der ihn als Parasiten anprangert. 1964 - Brodsky ist dreiundzwanzig Jahre alt - wird er (der da noch Iossif Brodskij heißt) auf der Grundlage des Dekrets „Über die Stärkung des Kampfes gegen Personen, die gesellschaftlich nützliche Arbeit verweigern und ein asoziales, parasitäres Leben führen“ verhaftet und zu fünf Jahren Verbannung verurteilt. Nach eineinhalb Jahren schwerster körperlicher Arbeit im russischen Norden, im Gebiet Archangelsk, kommt er frei - nach Interventionen mehrerer inländischer Schriftsteller, darunter Anna Achmatowa, Kornej Tschukowsky, Konstantin Paustowski, sowie heftiger Proteste in der westlichen Presse, u.a. von Jean-Paul Sartre. Sechs Jahre später - da ist Brodsky 32 Jahre alt - zwingt man ihn, sein Land zu verlassen. Im New Yorker Stadtteil Brooklyn findet er eine neue Heimat, ist er schon bald an den renommiertesten Universitäten des Landes als Dozent tätig. Immer ist er sicher, eines Tages nach Rußland zurückzukehren - und sei es auf dem Papier. Brodskys Werke sind mit der Perestroika tatsächlich nach Rußland zurückgekehrt. Er selbst allerdings sah seine Heimat und seine Eltern, die nichts unversucht gelassen hatten, ihn zu besuchen, nicht mehr wieder. Brodsky, Kettenraucher, auch noch nach zwei Herzoperationen, starb 1996 - da ist er 56 Jahre alt. Alles hatte er „seinen Stimmbändern erlaubt, bloß keine Klagen“ (Aus einem Gedicht von 1980).

Weil in seiner russischen Heimat verfemt, war er es zwangsläufig auch in der DDR. Deshalb wurde ich erst nach der Wende mit seinen tiefsinnigen Veröffentlichungen - Gedichte, zwei Theaterstücke, Autobiographisches und Essayistisches - bekannt.

Der Suhrkamp Verlag legt mit seinem Buch eine Auswahl von Gedichten Joseph Brodskys vor, die von 1960 bis 1987 reicht, dem Jahr, in dem er den Nobelpreis erhielt. 1991 ehrten die USA den Einwanderer mit ihrer höchsten Literaturauszeichnung und erklärten ihn zum „poeta laureatus“. Warum eigentlich hat der Verlag die Gedicht-Auswahl nicht bis in die neunziger Jahre ausgedehnt?

Brodskys lyrische Themen sind in hohem Maße von Trennung, Abschied und Tod bestimmt (besonders im „Redeteil“). Erinnerung ist in seiner Poesie ein zentrales Motiv, genauer: die Zeit, die Zeit als Wandel, als Vergehen, der wir unerbittlich unterworfen sind. In der vorliegenden Auswahl finden sich aber auch viele Widmungsgedichte, darunter nicht wenige Liebesgedichte. „Der Sprache gilt Brodskys gesammelte Aufmerksamkeit... Ihr lauscht er feinste Nuancen ab, mit ihr treibt er subtilste Spiele, ein Meister seines Handwerks, ein souveräner Beherrscher klassischer Versgattungen, Strophenformen und Metren.“ (Ilma Rakusa)

Auch in Amerika schrieb der Ausgewiesene (von wenigen Ausnahmen abgesehen) seine Gedichte auf russisch, während er in der Prosa größtenteils zum Englischen überwechselte. Die erstmalige zweisprachige Veröffentlichung der Gedichte Brodskys ist für den Russischsprechenden eine große Bereicherung, gibt es bei ihm doch zahlreiche Formulierungen, die in der deutschen Sprache wörtlich nicht wiederzugeben sind. Jeder der sechs Übersetzer dieses Bandes (alle Gedichte sind schon in anderen Ausgaben erschienen) fand einen anderen Kompromiß, um eine bestmögliche Annäherung an das Original zu erreichen - das kann der Russischkundige nun nachvollziehen. Anmerkungen am Schluß des Bandes hätte ich als zusätzliche Bereicherung empfunden - auch für den, der des Russischen nicht kundig ist.

Auf einer Lesereise 1983 in Hamburg sagte Joseph Brodsky über sich: „Ich bin ein schlechter Jude, ein schlechter Russe, ein schlechter Amerikaner, aber ein guter Poet.“ Um dem Letzteren zustimmen zu können (oder auch nicht), muß man sich der Anstrengung des Entschlüsselns unterziehen, was bei Brodsky gar nicht so einfach ist... Hilfreich sind da seine Prosawerke, besonders seine autobiographischen Erinnerungen an Petersburg, sein Venedig-Porträt Ufer der Verlorenen und sein Theaterstück „Marmor“, das Brodsky zur Reflexion über Fragen des Seins und der Zeit dient.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite