Eine Rezension von Gerhard Keiderling


Berliner Zeitgeschichte im Familienroman

Horst Bosetzky: Brennholz für Kartoffelschalen. Roman eines Schlüsselkindes.
Argon Verlag, Berlin 1996, 6. Aufl., 380 S.

ders.: Capri und Kartoffelpuffer. Roman.
Argon Verlag, Berlin 1997, 2. Aufl., 520 S.

ders.: Champagner und Kartoffelchips. Roman einer Familie in den 50er und 60er Jahren.
Argon Verlag, Berlin 1998, 1. Aufl., 502 S.

 

Zeitgeschichtliche Familienromane mit autobiographischem Hintergrund sind ein beliebtes Genre; manche haben schon als Vorlage für Film und Fernsehen gedient. Ihr Anliegen ist löblich, weil sie Erlebnisse und Erfahrungen festhalten wollen für die Älteren als Spiegel des eigenen Lebens, für die Jüngeren zum Verständnis früherer Lebenswelten. Horst Bosetzky erfüllt beide Ansprüche in lesenswerter Weise. Der Soziologieprofessor, der auch an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin lehrt, hat sich seit Jahren unter dem Kürzel „-ky“ mit Kriminalromanen einen festen Leserstamm geschaffen. In letzter Zeit hat er sich mit Büchern über einen S-Bahn-Mörder und über die liebe gute Straßenbahn auch der Berliner Verkehrsgeschichte zugewandt.

Die Hauptfigur der Trilogie heißt Manfred Matuschewski und kommt aus der Ossastraße in Neukölln, aus einfachen Verhältnissen. Sein Werdegang vom ewig hungrigen, in Fußball und Straßenbahn vernarrten Schlüsselkind bis zum gegen das „Establishment“ aufbegehrenden FU-Studenten wird lebendig, detailreich und mit der sprichwörtlichen „Berliner Schnauze“ geschildert. Die Kindheit wird im ersten Buch beschrieben, die Gymnasialzeit im zweiten und die Lehr- und Studienjahre im dritten. So spannt sich ein großer zeitlicher Bogen zwischen Nachkrieg und Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre. Nahezu alles, was für einen Berliner Jungen auf solch langer Wegstrecke wichtig und „normal“ scheint, findet eine kurzweilige Behandlung: Elternhaus und Verwandtschaft, Geburtstagsfeiern und Konfirmation, die Schule mit ihren skurrilen Lehrern und lustigen Streichen, die Freunde, mit denen man die Freizeit verbringt, die erste Liebe, die herbe Erfahrung, daß Lehrjahre keine Herrenjahre sind, und schließlich Freud und Leid des Studentenlebens. Es gibt weder dramatische Höhepunkte noch Brüche, also ein mannigfacher Lebenslauf, bei dem die Hauptfigur immer „auf dem falschen Dampfer zu sein“ scheint. Der autobiographierende und erzähltechnisch versierte Verfasser weiß geschickt die Akzente zu setzen, um Neugier und Spannung des Lesers an der Geschichte des liebenswerten Helden und seiner „janzen Mischpoke“ ständig im Fluß zu halten.

Uns interessiert hier die Frage, welche Bedeutung dem historischen und lokalen Hintergrund zugemessen, inwieweit Zeitgeschichte thematisiert und welches Epochenbild dem Leser vermittelt wird. Der Klappentext zum letzten Band verspricht: „Die Zeitgeschichte, die politische Entwicklung bleibt immer präsent ... Der Westteil Berlins war ein aufregendes Pflaster, dort wurden wichtige Teile der deutschen Nachkriegsgeschichte geschrieben.“ Letzteres ist aus der Fachliteratur hinreichend bekannt: Kriegsende, Zerstörung, Wiederaufbau, Kalter Krieg, Teilung und Wiedervereinigung. Bosetzky beabsichtigt nicht, mit breitem Pinsel und in grellen Farben ein solches Geschichtsgemälde als „Background“ seiner Familiensaga zu entwerfen. Mit feinen Strichen und guter Beobachtungsgabe hält er wichtige und nebensächliche Ereignisse so fest, wie sie seinen Romanhelden berührten. In der Beschreibung des Alltags wird Zeitgeist lebendig. Wie Manfred waren die meisten seiner Generation „Schlüsselkinder“ gewesen. Die berufstätige Mutter trug die volle Last der kleinen Familie, solange der Vater in Kriegsgefangenschaft war. Nach der Schule mußte auch der Knabe erste Pflichten übernehmen, so den Tausch von Kartoffelschalen gegen ein Brennholzbündel bei einem durch die Straßen ziehenden Bauern. Übrigens, daß sich auch des Berliners liebstes Grundnahrungsmittel von der Kartoffelschale über die Puffer bis zu den Chips durch alle drei Buchtitel zieht, zeigt an, wie sehr und wie lange das Sich-Sattessen-Können den Alltag dieser Generation bestimmte. Für das Überleben in der kriegszerstörten und dann blockierten Stadt waren die verwandtschaftlichen Bande wichtig, vor allem zum Garten der „Schmöckwitzoma“ im Ostteil. Eindrücklich ist auch die Beschreibung der Hamsterfahrt vom Lehrter Bahnhof in die Prignitz mit all ihren Gefahren. Das Wirtschaftswunder kam spät in die Inselstadt. Die kleine Angestelltenfamilie arbeitete sich langsam hinauf: erst eine Neubauwohnung, dann ein Fernseher, ein Kühlschrank und schließlich die erste Fernreise.

Manches wirkt indes künstlich aufgesetzt, besonders in den späteren „normalen“ Jahren. Da Bosetzky die persönliche Erinnerungsebene über das Zeitgemälde stellt, braucht er erzähltechnische Mittel, um aus Gründen der Authentizität hin und wieder die Mikrowelt seiner Figur mit dem Makrogeschehen in der Stadt zu verbinden. Das Mithören einer RIAS-Sendung, das Blättern in einer Tageszeitung, Reklamesprüche und Kinobesuche oder die Fülle der Sportereignisse sind solche Momente, um Zeitgeist einzufangen. Apropos Sport: Hier und ebenso in puncto Straßenbahn ist der Autor voll in seinem Element. Vor allem der Straßenbahn-Triebwagen der Serie T 33 U, „Stube und Küche“ genannt, weil halb Raucher, halb Nichtraucher“, hat es ihm angetan, und so fiebert der Leser durch alle Bände mit, ob sie wieder quietschend um die Straßenecke kommt.

Kleine Fehler, die sich einschleichen, muß man einem Roman nachsehen. So mutierte die SED in Westberlin erst 1969 zur SEW, die NVA der DDR gab es erst seit 1956, und nicht Bernd Rosemeyer, sondern der Suhler Paul Greifzu verunglückte 1952 beim Autorennen auf der Dessauer Schleife tödlich. Auch ist Blankenfelde kein Dorf in der DDR, sondern ein Ortsteil des Ostberliner Stadtbezirks Pankow.

Es erstaunt, daß viele große Ereignisse, die nicht nur die Stadt in Atem hielten, die Alltagswelt eines heranwachsenden Westberliners offenbar nur streiften, so der 17. Juni 1953, der Tod Ernst Reuters am 29. September 1953, der Ungarn-Aufstand 1956 oder der Sputnik 1957. Blockade und Luftbrücke 1948/49 werden auf zwei Seiten abgetan, denn: „Richtig hungern brauchte keiner.“ Selbst das Chruschtschow-Ultimatum vom 27. November 1958, das das Schicksal der Westberliner zu verändern drohte, findet nur als „ein Tag des Schreckens“ en passant Erwähnung. Die scharfen politischen Gegensätze in der durch Teilung und Kalten Krieg so arg gebeutelten Stadt tauchen flüchtig im persönlich-familiären Milieu auf, in inhaltsleeren Gesprächen bei Familienfeiern („Lieber tot als rot!“) oder in Erbitterung gegenüber den DDR-Grenzkontrollen und -schikanen („Man verdammte Deutschland-Ost und die Teilung“). Außer Besuchen bei der „Schmöckwitzoma“ und einigen Kahnfahrten auf Spree und Dahme blieb dem jugendlichen Romanhelden, der 1957 das Abitur ablegte, dann bei Siemens in die Lehre ging und sich 1960 an der Freien Universität einschrieb, der Ostteil der Stadt fremd. Die Sperrmaßnahmen der DDR am 13. August 1961 erzeugten Wut und Empörung. „Im Alltag der meisten Westberliner hatte sich durch den Mauerbau nichts geändert.“ Der anfängliche Sonntagsspaziergang zum „Monstrum“ wurde wieder eingestellt. Die fortbestehende Bewegungsfreiheit der Westberliner - seit dem Passierscheinabkommen vom Dezember 1963 auch nach Ostberlin - hielt eine aufkeimende Klaustrophobie in Grenzen. An der Atmosphäre des Provinziellen, die während der sechziger Jahre über Westberlin lag, rüttelte erst der Studentenprotest von 1967/68. Auch ihn erlebte die Hauptfigur nur vom Rande her.

Was vermag der autobiographische Roman an Zeitgeschehen und Zeitgeist einzufangen, will er nicht bloßes narratives Geschichtsbuch sein? Natürlich werden in ihm objektive Prozesse durch subjektiv bedeutsame Lebensereignisse marginalisiert. Dennoch überrascht an der „Manfred“-Trilogie die relativ geringe Tiefenwirkung der gesellschaftlich-historischen Ereignisse auf die individuelle Lebensgestaltung, weil man sie mit Blick auf Ort und Zeit so nicht erwartete. Dieser Eindruck würde sich verstärken, hätte man Lebensläufe gleichaltriger Ostberliner zum Vergleich. Deren Sozialisation war weitaus stärker von der Politisierung durch Schule und Jugendorganisation in der DDR geprägt. Viele verbrachten bis 1961 auch einen Großteil ihrer Freizeit in der Weststadt. Also Idylle im jahrzehntelangen Brennpunkt deutscher Geschichte? Die Frage, inwieweit der autobiographische Roman als zeitgeschichtliche Quelle und als Möglichkeit, Lebenserfahrungen anderer Menschen zu nutzen, einen Aussagewert besitzt, bleibt von allgemeinem Interesse, besonders bewegt sie natürlich die Vertreter der „oral history“ und der Biographieforschung und nicht minder die Soziologen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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