Eine Rezension von Licita Geppert


„Der Zoll der Tränen“

Manfred Bieler: Der Mädchenkrieg

Roman.

Ullstein Verlag, Berlin 1998, 687 S.

Heiter, fast beschwingt beginnt dieser berühmte Roman über das Schicksal einer deutschen Familie im Prag der dreißiger Jahre, der unmerklich, aber unaufhaltsam in eine Tragödie hinübergleitet. Es sind natürlich die bekannten äußeren Umstände: die Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland, die Annexion der CSR, die Judenverfolgung, die wechselnden Machtverhältnisse zwischen Tschechen und Deutschen und der Krieg, die den Verlauf der Handlung bestimmen, Zäsuren setzen; das Besondere dieses Buches besteht für mich jedoch darin, daß all diese politischen Ereignisse wohl stattfinden, mitunter auch benannt werden, zumeist jedoch nur durch den Fortgang der Romanhandlung indirekt gespiegelt werden. Die Banalität der weltverändernden Umschwünge wurde selten so eindringlich nahegebracht wie hier, wo sie fast unerwähnt bleiben. Bieler macht aus diesem 1975 geschriebenen, und bei Ullstein neu aufgelegten, Buch ein Zeitzeugnis, so authentisch wirken die Schilderungen der seltsam hektisch-betulichen Stadt Prag mit ihrer eigentümlichen deutsch-tschechisch-jüdischen Mischung. Provinz- und Großstadt in einem, so ganz tschechisch und plötzlich doch wieder deutsch, mit einer Bevölkerung, die intellektuell und kunstbegeistert, patriotisch und angepaßt, geschäftstüchtig und weltfremd zugleich ist, zieht sie alle in ihren Bann, verschlingt sie auch die Zugezogenen mit Haut und Haaren, um sie bei veränderten Umständen gnadenlos wieder auszuspucken.

Drei Töchter zwischen vierzehn und Anfang zwanzig und einen blinden Sohn nennt der deutsche Bankier Dr. Sellmann sein eigen, der auf Veranlassung der „Saxonia“-Bank und des böhmisch-jüdischen Magnaten Eugen Lustig mit Frau und Familie 1932 von Zerbst an die Moldau übersiedelt. Ihnen allen erwachsen Schwierigkeiten beim Einleben in diese neue, so andersartige, vielsprachige Welt, und in unterschiedlicher Weise wird jeder einzelne damit fertig. „Man muß seinen Platz finden und ihn ausfüllen. Aber wo ist er?“ Christine, die Blonde, ist die Älteste der Schwestern; Katharina, die Rote, ist die Jüngste. Zwischen ihnen beiden liegt altersmäßig Sophie, die Schwarze. Ihr Bruder Heinrich ist das Nesthäkchen und aufgrund seiner Behinderung ihrer aller Hätschelkind. Die Haarfarbe ist nicht nur charakterliches, sondern auch politisches Programm: Sophie, die begabte Sängerin, der letztlich aber die für diesen Beruf notwendige glühende Leidenschaft abgeht, wird nach einer unglücklichen Liebesbeziehung zu ihrem tschechischen Schwager den Schleier nehmen und viele Jahre im Kloster verbringen, fernab des Krieges und doch durch die Verwundeten ständig mit ihm konfrontiert, während die Rote ihrer ebenso unstandesgemäßen Liebe zum Sohn eines kommunistischen Abgeordneten folgt und mit diesem in den Untergrund geht. Allein Christine, die Blonde, die ihre Liebe verraten sieht, bringt mit Geschäftstüchtigkeit und Cleverneß die angeheiratete Firma durch Nazizeit und Krieg. Die Schicksale der drei Frauen sind eng miteinander verwoben, obwohl sich ihre Wege trennen. Was zunächst als normale geschwisterliche Eifersüchtelei erschien, wandelt sich nach und nach von Unverständnis zu Entfremdung, von Ablehnung in offene Feindschaft. Bieler erzählt ihre unterschiedlichen Geschichten getrennt, aber ohne die der anderen dabei aus den Augen zu verlieren. Eingeschobene Traumsequenzen brechen die Wirklichkeit in unregelmäßige Teile und formen daraus ein bizarres Mosaik, dessen neuerschaffenes Bild alles plötzlich viel klarer erscheinen läßt, weil dahinter die einfache Wahrheit zum Vorschein kommt ... „Anfangs, besonders in den Nächten, hatte sie geweint, doch eines Sonntags fand sie in einer Geschichte die Wendung vom ,Zoll der Tränen‘ ... Trat man durch Tränen wirklich in ein anderes Land? Waren Ängste und Schmerzen nur die Mautstellen, an denen in einer Währung gezahlt wurde, von der die Augen ohnehin überliefen?“

Die Wege der Menschen in diesem Roman berühren sich, laufen eine Weile parallel, driften wieder auseinander, um dann unter völlig veränderten Umständen einander wieder zu kreuzen. Dies ist besonders erschütternd, weil es so unangestrengt und beiläufig geschieht, ja beinahe unabsichtlich. Der Moment, in dem die Geschichte quasi umkippt und das Grauen die Oberhand gewinnt, ist nicht zu benennen.

„Wir besuchten einen Kollegen Vavras auf der Kleinseite. Bis zum vorigen Jahr hatte er einen Lehrauftrag für Sprachpsychologie. Er läßt sich von seiner Frau jeden Abend einsperren, um nicht zu trinken. Trinken will er nicht, um nicht auf die Straße zu laufen, und auf die Straße laufen will er nicht, um nicht zu schreien, und schreien will er nicht, um nicht eingesperrt zu werden.“ Bieler läßt sich Zeit für ausholende Betrachtungen und skurrile Vergleiche, die dem Roman die literarische Würze verleihen. Er weiß die Trostlosigkeit der Besiegten während der deutschen Herrschaft ebenso glaubwürdig zu beschreiben wie die geistig-soziale Kehrtwende nach der Vertreibung der Nationalsozialisten. Dabei verzichtet der Autor auf jegliche agitatorischen Momente und Denunziationen. Der Mädchenkrieg ist nicht nur die Geschichte dreier Schwestern, sondern ein politisches Buch im besten Sinne. Neben der Erfahrung eines wenig beschriebenen Kapitels deutsch-tschechischer Geschichte bürgt Bielers virtuos gehandhabte Sprache ebenso wie die sicher geführte Handlung für hohen Lesegenuß.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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