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Christel Berger

Friedrich Wolf in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts

 

Ein hundertzehnter Geburtstag eines Schriftstellers ist im allgemeinen Verständnis der Medien kein Ereignis. Das große Jubiläum ist erst zehn Jahre her, und wenn sich nichts Wesentliches im öffentlichen oder offiziellen Literaturverständnis verändert hat, wartet man gern noch die nächsten 15 oder 40 Jahre ab, bis erneut gefragt werden kann, ob er nun endgültig zum Klassiker geworden oder gänzlich vergessen ist.

Normalerweise. Nun gab es aber einen gesellschaftlichen Umbruch, verbunden mit einer tatsächlichen Cäsur offizieller Literaturpolitik, und es ist schon interessant zu verfolgen, was mit einem zum 110. Geburtstag geschieht, der 1988 - zum 100. am 23.12.1988 - einen Staatsakt in der DDR bekam und in der Bundesrepublik auch höchstoffiziell „wiederentdeckt“ wurde. Also Friedrich Wolf: Nach dem Ersten Weltkrieg einer der jungen expressionistischen Dramatiker und Kriegsgegner, in den zwanziger Jahren viel gespielter Dramatiker, mit „Professor Mamlock“ (1933) der erste, der die Judenverfolgung in Nazi-Deutschland in einem Schauspiel thematisierte und dies glühenden und wütenden Herzens der Welt mitteilte. Und die Bühnen der Welt reagierten... Wolf - selber Jude, Arzt, mit 40 Jahren nach langem Suchen Kommunist. Verfolgt von den Nazis, emigriert er in die Schweiz, nach Frankreich, dann samt Familie in die Sowjetunion. Reist von hier in die Städte des Landes und der Welt (Amerika, Skandinavien), um Proben und Aufführungen seiner Stücke zu begleiten. Ende 1937 ist er in Frankreich, verlebt mit den emigrierten Genossen (und Genossinnen) noch ein paar schöne Wochen, bis er gemeinsam mit den meisten in Le Vernet und später Les Milles interniert wird. In letzter Minute schaffen es seine Frau und die Freunde in der Sowjetunion, ihn kraft eines sowjetischen (falschen) Passes zurückzuholen. Er hat nicht viel Zeit zum Erholen, denn nun kommt der Krieg auch hierhin, und Wolf wird zum unermüdlichen Propagandisten an der Front. Will die deutschen Soldaten zu Einsichten, zum Aufgeben bewegen. Gründet mit anderen das „Nationalkomitee Freies Deutschland“, kann es nicht erwarten, ins befreite Deutschland zu kommen, und hat dann in der Heimat weniger Freude, weniger Erfolg und Bestätigung als erhofft. Zwar wird sein „Mamlock“ anfangs sehr viel (in allen Besatzungszonen Deutschlands) gespielt, doch er ist insgesamt unzufrieden mit den Theatern des Landes, die sich nur zögerlich, wenn nicht gar ablehnend gegenüber seinen neuesten Stücken (U.a.: „Was der Mensch säet“, 1945, „Wie Tiere des Waldes“, 1947) verhalten.

Französische, auch amerikanische Autoren sind viel beliebter, und bald wir der alte Freund und Rivale(?), der neue Stern der Dramatik und Schauspielkunst aus dem amerikanischen Exil zurückkehren und ihm den Platz an der Spitze nehmen. Bertolt Brecht bringt eine ganz andere Vorstellung von Theater mit und setzt sich - wenn auch nicht unbestritten - durch. Was Friedrich Wolf bezüglich Schuld und Schambewußtsein der Deutschen in Berlin und anderen Städten erlebt, empört ihn, und auch nicht jede Entscheidung seiner Genossen, die mit ihm die Macht im Lande haben, ist in seinem Sinn. (Über die Auflösung der Volksbühnenbewegung [1953], deren Vorsitzender er war, beispielsweise soll er sich mächtig geärgert haben.) 1950 wurde er auf Drängen Wilhelm Piecks, des alten Freundes, der erste Botschafter der DDR in Polen. Er blieb auf eigenen Wunsch nur ein Jahr, dann ging es zurück nach Lehnitz - ein idyllisches Fleckchen bei Oranienburg, nahe und fern genug von Berlin. Er blieb rastlos, schrieb an mehreren Projekten gleichzeitig, ärgerte sich über die Interpretation seiner Stücke, wenn sie von den Theatern gespielt wurden, war Mitglied und Funktionär vieler wichtiger Institutionen, obwohl er seit seiner Verschüttung im Ersten Weltkrieg und vor allem seit Le Vernet trotz disziplinierter Lebensweise nicht gesund war. Er starb am 5. Oktober 1953 an einem Herzinfarkt - vier Tage zuvor hatte er noch in Leipzig anläßlich der 125-Jahr-Feier des Reclam-Verlags die Festrede gehalten.

Obwohl die ersehnte Rückkehr seiner Stücke auf die Bühnen in dem Maße, wie er hoffte, nicht mehr eintrat (aber es gab hin und wieder interessante, ja spektakuläre „Wolf“-Inszenierungen, beispielsweise eine „Mamlock“-Aufführung in Neubrandenburg noch in den 80er Jahren!), gehörte er in der DDR zu den „sozialistischen Klassikern“, die gepflegt und geehrt wurden - vergleichbar etwa Johannes R. Becher, Kulturminister und Dichter der Nationalhymne. Wie dessen Texte und einige von Erich Weinert wurde Friedrich Wolfs „Professor Mamlock“ Pflichtstoff an den Schulen. Ungleich besser als bei Erich Weinert erhielt sein Leben und Werk weiterhin große Aufmerksamkeit seitens seines Verlags (Aufbau, Berlin), durch die Wissenschaft und in der Öffentlichkeit. (Es gab eine große Menge Schulen, Polikliniken, Bibliotheken und andere offizielle Einrichtungen, die nach ihm benannt waren und sich in verschiedenen Formen seinem Erbe widmeten.) Sein Biograph Walther Pollatschek und seine Witwe Else Wolf wurden die Herausgeber seines „Gesammelten Werks“ (1960-1968), das gut ediert in wiederkehrenden Auflagen (auch nach dem Tode der Herausgeber) in 16 Bänden und in Ausgewählten Werken in Einzelausgaben erschien. Er war auch ein beliebter und gut verkaufter Märchen-, Fabel- und Geschichtenerzähler für Kinder. (Seine „Bummi“-Geschichte erschien bei Aufbau von 1945-1995 in 635 000 Exemplaren, die Märchen für große und kleine Kinder 583 mal, und wer kennt die Weihnachtsgans August nicht?) Viele Wissenschaftler reizte es, die beiden Klassiker „deutscher sozialistischer Dramatik“, Brecht und Wolf, zu beschreiben und zu vergleichen. Sein Sohn Konrad verfilmte 1961 den „Professor Mamlock“ neu. Wolf war in der DDR präsent. 1988 - zu seinem 100. Geburtstag - gab der Aufbau-Verlag eine achtbändige neue Ausgabe aller seiner Dramen heraus, der Mitteldeutsche Verlag Halle druckte einen Reprint seines Anfang der 30er Jahre erschienenen, heute sensationellen Arztbuches Natur als Arzt und Helfer, Lew Hohmann erarbeitete einen Dokumentarfilm und eine wunderschöne, für damalige Verhältnisse „kühne“ Bildbiographie (Henschel-Verlag, Berlin), Dr. Emmi Wolf, die langjährige Leiterin des Friedrich-Wolf-Archivs der Akademie der Künste der DDR, publizierte eine umfangreiche Dokumentation über den in der DDR ziemlich unbekannten jungen Friedrich Wolf, natürlich hatte der Kinderbuchverlag eine neue Ausgabe seiner Texte für Kinder parat...

Die große wissenschaftliche Konferenz anläßlich des 100. Geburtstags aber war in Neuwied am Rhein, der Geburtsstadt des Autors. Dort hatte man zuletzt 1948 mit einer „Cyankali“- Aufführung versucht, an diesen Sohn der Stadt zu erinnern. Doch auch noch 1948 war manchem Bürger dieser eigentlich sehr liberalen Stadt eine solche Auffassung - das Eintreten für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und ein revolutionäres Plädoyer für die Armen in der kapitalistischen Gesellschaft - zu radikal gewesen. Die Aufführung wurde zum Skandal, und seitdem verschwieg die Stadt diesen Sohn.

Bis eben 1988. Rührige Sozialdemokraten und couragierte Zeitgenossen wollten den unhaltbaren Zustand beenden. Es war die Zeit einer neuen Praxis eines Kulturabkommens zwischen den beiden deutschen Staaten (Erich Honecker war stolz aus Bonn und Wiebelskirchen zurückgekehrt), die Konferenz in Neuwied bediente also recht verschiedene Interessen. Aber sie war insgesamt ein Ereignis: Über dreißig Redner aus Deutschland Ost und West, Amerika und der Sowjetunion, Israel, der Schweiz, Frankreich, China, Schweden. Grußworte aller Bürgermeister der Städte, in denen Friedrich Wolf gelebt hatte. Hans Koschnick, MdB, sprach vor dem Leiter der DDR-Delegation, dem stellvertretenden Minister Klaus Höpcke. Ein Westberliner Literaturwissenschaftler hielt das Hauptreferat. Alles ausgewogen, wie das bei staatlichen Kulturabkommen zu sein pflegt. Nachzulesen im 318 Seiten starken Protokollband „Mut, nochmals Mut, immerzu Mut“, der zwar gemeinsam von „hüben“ und „drüben“ herausgegeben und dorthin ausgeliefert wurde, aber wie viele Bücher dieser Zeit nicht mehr das erwartete Interesse erfuhr. Ein Sturm fegte über das Land.

Als allmählich wieder Ruhe einzog und vieles neu geordnet wurde, war unter anderem das ehemalige Friedrich-Wolf-Archiv in Lehnitz, das letzte Domizil Friedrich Wolfs und bis 1990 Außenstelle der Akademie der Künste der DDR, dem Land Brandenburg übereignet, und hier wurde nach etlichem Hin- und Her eine öffentliche Nutzung des Gebäudes beschlossen, zwar nicht als Archiv, denn dessen Bestände waren noch „planmäßig“ wie die Akten und Manuskripte anderer Autoren auch in das neue Archiv-Gebäude in Berlin eingelagert worden. Dann eben als Gedenkstätte - Gedenken aber an wen?

Und damit setzte eine - im Vergleich zu anderen Schmähungen einstmals berühmter oder geehrter Dichter - kleine Auseinandersetzung über einen Dichter ein, dessen Werke kaum noch gespielt werden, dessen Bücher (bis auf die Märchen!) nicht mehr verlegt, dessen Name kaum noch (außer in Lehnitz!) von öffentlichen Institutionen getragen wird. Der CDU-Fraktionsvorsitzende des Kreises Oberhavel nannte Friedrich Wolf einen Stalinisten, der keine Gedenkstätte verdiene. Aber das ist ungenau: Er meinte, daß eine Gedenkstätte dieses Namens keine öffentliche Förderung verdiene. (Und später wurde deutlich: Er hätte sich gar nicht so echauffiert, hätte dieser Friedrich nicht einen Sohn, der Markus heißt!) Damit rief er eine kleine Schar Aufrechter auf den Plan, die sich 1992 zur Friedrich-Wolf-Gesellschaft formiert hatten - Leute aus Neuwied und Berlin, Remscheid und Lehnitz, Stuttgart und Dresden. Leute, die mit Friedrich Wolf die Verpflichtung verbinden, sein Werk, sein Leben und seine Ziele nicht vergessen zu lassen. Ehrenamtlich und mit hin und wieder genehmigten ABM-Stellen bewahren und betreiben sie nun die Friedrich-Wolf-Gedenkstätte in Lehnitz als kleines Museum (Wohnzimmer, Bibliothek und Arbeitszimmer des Dichters sind im Originalzustand zu besichtigen) und Vertriebsstelle noch vorhandener Bücher des Autors, als Ort für Lesungen und Diskussionen. Die Unterstützung durch die Obrigkeit in Brandenburg ist mehr moralisch. Mit Freude registrieren sie, daß man in Neuwied erfolgreicher ist, wenn es um die finanzielle Unterstützung beispielsweise von Veranstaltungen geht.

Im November 1998 wurden in Neuwied Friedrich-Wolf-Kulturtage durchgeführt. Mehr noch als vor zehn Jahren konnten die Einwohner Neuwieds selbst entscheiden, was der wiedergefundene Sohn wert ist. Ein angesehenes Laientheater der Stadt spielte „Professor Mamlock“, während eines Chor-Konzerts eines Friedrich-Wolf-Chores (!) aus Dresden wurden Texte des Autors rezitiert, die dessen lebenslange Verbundenheit zum Rhein dokumentierten, das Poem „Lilo Herrmann“ wurde nach langen Jahren wieder aufgeführt, Filme nach Friedrich Wolf und die seines Sohnes Konrad wurden gezeigt. Der verlorene Sohn kehrte heim.

Interessant auch das wissenschaftliche Symposium anno 1998. Diesmal nicht so hoch angebunden, daß Minister empfangen werden mußten (aber einen Empfang ließ sich der Oberbürgermeister nicht nehmen!). Auch keine internationale Beteiligung. Sechs Beiträge von Wissenschaftlern aus Ost und West, die vor allem den jungen Wolf neu entdeckten - seine Sinn-Suche in verschiedensten Strömungen der damaligen Zeit: Wolf, der junge, angehende Arzt, der Sterben als organischen Teil des Lebens betrachtet, angeregt durch sowohl uralte und auch moderne indische Philosophien. Wolf - der Sohn jüdischer Eltern, der sich einerseits bald von der Enge dieser religiösen Bindung löst und dennoch zeitlebens den Wurzeln verbunden bleibt. Wolf - der (wie viele damals) Dostojewski-Verehrer, der ganz direkt Bezüge des großen Russen in seine frühen Werke einbaut. Wolf - einer von vielen, der über die Jugendbewegung ausbricht aus bürgerlichem Mief und all die Wege und Umwege mitmacht. Die Wissenschaftler waren zu den Quellen gegangen und bargen so einen jungen Wolf, der in der DDR lange unbeachtet geblieben war und in der BRD gänzlich verschwiegen oder uninteressant.

Die Literaturwissenschaftler - einige auch Teilnehmer der großen Konferenz von vor zehn Jahren - ergänzten damalige Ansätze oder führten ganz neue (damals wegen verschlossener Archive nicht erreichbare Dokumente) in die Debatte. Es gab auch indirekte Revisionen damaliger Ansichten. Auch so formt die Wende das Wolf-Bild in der Literaturwissenschaft.

Ob Friedrich Wolfs Werk bis auf wenige Texte die Bühnen oder Leser des 21. Jahrhunderts erreichen wird, ist fraglich. Seine Stücke sind - mehr als die anderer Autoren - bewußt zeitbezogen. Seine Sprache und Argumentation ist oft agitatorisch, die Struktur vieler seiner Stücke aristotelisch oder traditionell. Daß es auch noch im 21. Jahrhundert um Probleme gehen wird, die Wolf mit seinem besonderen Gespür für seine Zeit aufgriff - Abtreibung, Rassismus, Konsumentendenken, Mitläufertum, würde ihm wahrscheinlich nicht gefallen, ist aber eine Chance für die Texte. Engagierte Regisseure könnten hier einiges entdecken. (Und bei genügend Talent für Experimente wäre so einiges zu machen!) Je bedrängender die Fragen nach sinnvoller Existenz, nach Überleben auch einer zukünftigen Generation werden, um so mehr ist zu vermuten, daß die Bücher des ebenfalls nie zufriedenen Weltverbesserers Wolf nicht vollkommen in den Regalen verstauben werden. Ebenso wie die Neugier auf ein so reiches und überaus widerspruchsvolles Leben und die Faszination für einen charismatischen Mann solange nicht verebben wird, wie die Informationen über ihn erreichbar und vorhanden sein werden.

Die Literaturhistorie aber hat noch ein weites Forschungsfeld vor sich. Was sich in Neuwied in Ansätzen zeigte - eine Fülle neuer Erkenntnisse, wenn man nur zu den Quellen geht, scheint mir der Weg, der nicht nur für den jungen Wolf gilt. Beispielsweise sein Auftreten in der Sowjetunion - seine Haltung, als viele seiner Genossen unrechtmäßig in Lager und Gefängnisse kamen, wurde von Dr. Henning Müller nach 1989 als aufrichtig und klarsichtig beschrieben, und Graf von Einsiedel als junger Wegbegleiter im Nationalkomitee bestätigte es. Über sein Verhalten nach 1945 in Deutschland sind einige Zeitzeugen und die im Archiv vorhandenen Dokumente noch zu befragen. Es geht überhaupt nicht darum, das alte Bild einem „neuen Zeitgeist“ zuliebe umzustülpen, man braucht nur genauer die Quellen zu verfolgen und wird einen reicheren und widerspruchsvolleren Friedrich Wolf entdecken.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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