Eine Annotation von Christa Niemann


Kundera, Milan:

Die Identität

Roman.

Carl Hanser, München 1998, 163 S.

Chantal und Jean-Marc sind seit Jahren ein glückliches Liebespaar, jeder mit seiner eigenen Vorgeschichte. Chantal hat in erster Ehe einen Sohn geboren, der als Kleinkind starb. Danach verließ sie ihren Mann und seinen Familienclan, in dessen Fängen sie zu ersticken drohte, und führte ein selbständiges Leben. Beruflich ehrgeizig und zur Perfektion neigend, wurde sie erfolgreich in der Werbebranche. Kompromißbereit hat sie sich in einem Umfeld eingerichtet, das sie eigentlich verachtet, und kann als Frau mit „zwei Gesichtern“ gut leben. In Jean-Marc fand sie, die abwechslungsreiche Abenteuer nicht suchte, den idealen Geliebten, an dessen Seite sie glücklich ist und sich geborgen fühlt.

Jean-Marc hat vor Jahren ein Medizinstudium abgebrochen und damals zugleich alle Ambitionen auf irgendwelche weltlichen Werte, einschließlich eine berufliche Karriere, verloren. Er versuchte sich auf anderen Gebieten, schrieb für einige Zeitschriften Artikel über Innenarchitektur und Medizin, arbeitete als Zeichner in einer Tischlerei und als Skilehrer, ohne jemals wieder eine Berufung gefunden zu haben. Er hat sich „am Rand der Welt“ eingerichtet und fühlt sich wohl. Desillusioniert und zum Nihilismus neigend, findet er Kraft und Stärke erst wieder in seiner Liebe zu Chantal. Sie ist für ihn die einzige gefühlsmäßige Verbindung mit der Außenwelt. Als er merkt, daß Chantal unter dem Älterwerden leidet und verletzlich und unsicher wird, ist er berührt und besorgt zugleich. Um ihr Mut und Selbstvertrauen zu geben, schreibt er wunderschöne Briefe an sie. Erfreut und gerührt bemerkt er, daß in Chantal, die anfangs aufgewühlt und zerstört reagiert, eine neue Leidenschaft aufflammt. Zugleich entsteht in ihm ein Stachel der Eifersucht, da sie die Briefe vor ihm verbirgt. Es schleichen sich Mißverständnisse ein, und für beide beginnt ein zerstörerischer Alptraum. Wird es ihnen gelingen, sich aus diesem zu befreien, und werden sie sich ihre Liebe bewahren können?

Milan Kundera hat eine romantische Geschichte in einer höchst realistischen Welt geschrieben. Es ist ein psychologischer Liebesroman, der von den Hauptfiguren Chantal und Jean-Marc, ihren Persönlichkeiten, Differenzen und Gefühlen - Illusionen und Desillusionen, Verzweiflungen und Hoffnungen - erzählt, aber auch von der Macht der Leidenschaft und der Sinnlichkeit in der heutigen Welt, in der die Liebe oft totgesagt wird. Kundera vermag es wie kaum ein anderer, Empfindungen in Worte zu kleiden, die Wehmut und zugleich Optimismus aufkommen lassen.

Ein wunderbares Buch von einem großartigen Autor!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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