Eine Annotation von Bernhard Meyer


Petri, Horst:

Lieblose Zeiten

Psychoanalytische Essays über Tötungstrieb und Hoffnung.

Sammlung Vandenhoeck. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1996, 223 S.

Der Band bietet elf zusammenhängende Essays an. Sechs Beiträge befassen sich knapp und anspruchsvoll mit dem Thema „Kindheit im Wandel“, wobei insbesondere dem Phänomen des Fremden in der Kindheitsentwicklung nachgegangen wird. So findet der Leser aus psychoanalytischer Sicht diskutierte Probleme wie Kinderängste, Scheidungskinder und die unheilvolle Wirkung des Fernsehens auf Kinder und Jugendliche. Es folgen in einem zweiten Abschnitt mit der Überschrift „Zwischen Triebschicksal und äußerer Bedrohung“ fünf Beiträge zum Tötungstrieb, zur Gewaltherrschaft wie zum Prinzip Hoffnung.

Bereits im Vorwort ordnet der Autor sein Thema „lieblose Zeiten“ als ein über die Jahrhunderte vorhandenes gesellschaftliches Dauerthema ein. Lieblosigkeit habe es immer gegeben, während liebevolle Zeiten illusionär waren. (S.7) Er ruft auf, Gefühle zu empfinden, denn ohne sie entschwindet die Hoffnung. Und gerade sie muß erhalten bleiben, wenn Zukunft neu gestaltet werden soll. Zukunftsängste der Kinder und Jugendlichen bestimmen immer wieder die Gedankengänge Petris. Sie stehen in Konfrontation mit einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der „die Maschine den Menschen mit all seinem Anspruch auf Würde, Recht, Beziehung, Liebe“ de facto überflüssig macht. Daraus erwachsen Entfremdung und Fremdheit, die zu einer Identitätskrise mit massiver Zukunftsangst führen. (S. 68)

Besonders kritisch erfolgt die Auseinandersetzung mit dem „Fernsehen“ und den Auswirkungen auf die Kinder, die dem Angebot von Aufkärung und Gewalt gleichermaßen hilflos gegenüberstehen. Petri spricht von einer „Fernsehkindheit“, die zur sozialen Isolation führe, kritisches Denken und Urteilen verhindere, den aktiven Handlungsspielraum kindlicher Erfahrungwelten einenge und durch die gesehene „Verherrlichung aller Formen der Brutalität“ zur gewalttätigen Lösung von Konflikten anrege. Der „imperiale Machtbegriff des Fernsehens“ hat die „Transformation bisheriger Kinderkultur“ eingeleitet, die zu einer problembeladenen „Modernisierung der Kinder“ führt. Der Autor verfolgt die Frage nach den seelischen und psychosozialen Auswirkungen diese Umstandes. (S. 114)

Sodann äußert sich Petri über den Tötungstrieb im Menschen, der ihm naturgegeben ist, eingegrenzt von konfessionellen, moralischen und juristischen Gesetzen. Der Soldat als Mensch im Krieg, die Identifikation mit dem überlebenden Helden, sich überschlagende Katastrophenmeldungen, Mord- und Todeswünsche gegenüber anderen als Teil der „menschlichen Konstitution“ (S. 132) erfahren beim Autor sachkundige Analyse. Mit Neugier gelangt der Leser zum Kapitel „Zur Psychoanalyse der Hoffnung“. Bewußt, so Petri, setzt die Psychoanalyse auf den Hoffnungseffekt als Voraussetzung jeglicher Zweckmäßigkeit menschlichen Lebens und der Zukunftsgestaltung. Hoffnung braucht Mut und Aufklärung, und dazu bietet der Autor reichlich Anregungen.

Die Abhandlung erfolgt anhand klassischer Autoren wie Marquis de Sade, Sigmund Freud und Erich Fromm, um nur einige zu nennen, und in glänzender Kenntnis der aktuellen Literatur. Spannend zu lesen der vom Autor anerkennenswert bewältigte Bogen von eigenen Kindheitserlebnissen und psychoanalytischen Berufserfahrungen in der Diskussion mit empirischen Untersuchungen der Gegenwart und Vergangenheit. Bemerkenswert für Diktion und Denkweise des Autors, daß er dem Lesenden nicht als Übermensch erscheint, sondern als vor allem sachkundig Mitfühlender, der aus dem zurückhaltend angedeuteten Fundus seiner ärztlichen Psychotherapeutenarbeit schöpft. Eigene Erlebnisse und Konflikte bilden oftmals den Ausgangspunkt, um die Probleme der widerspruchsvollen, desillusionierenden Gegenwart zu erklären. So entsteht eine wohltuende Vertrautheit zwischen Leser und Autor. Es wird spürbar, wer das geschrieben hat, sucht ebenfalls Antworten. Und an dieser Suche läßt er uns teilhaben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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