Eine Annotation von Manfred Werner


Müller-Mertens, Eckhard:

Politische Wende und deutsche Einheit

Fixierung und Reflexion der Ereignisse in der DDR 1989-1990

FIDES Verlags- und Veranstaltungsgesellschaft, Berlin 1997, 104 S.

Der international anerkannte Mittelalterhistoriker Eckhard Müller-Mertens bringt die historische Kenntnis der deutschen Staats- und Nationalfrage wie Methoden seiner Fachdisziplin in die in der thematischen Linie „Spurensicherung“ vorgelegten zeitgeschichtlichen Untersuchung ein. Zu dieser bewegten ihn das ostdeutsche Interesse und die eigene gesamtdeutsche Intention.

Für diese wirkte er gegen den Zeitgeist in den Jahren der deutschen Zweistaatlichkeit sowohl in der universitären Lehre als auch als ordentlicher Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin bis 1988 und auch mit seinen Büchern, vor allem mit seinen Werken Regnum Teutonicum. Aufkommen und Verbreitung der deutschen Reichs- und Königsauffassung im frühen Mittelalter (Berlin 1970), Die Reichsstruktur im Spiegel der Herrschaftspraxis Ottos des Großen. Mit historiographischen Prolegomena zur Frage Feudalstaat auf deutschem Boden, seit wann deutscher Feudalstaat? (Berlin 1980).

Der Autor problematisiert mit ungewöhnlichen Fragestellungen die heute herrschenden Ansichten über den Einigungsprozeß. Müller-Mertens hinterfragt die Ereignisse in der DDR 1989/90, die zur politischen Wende und schließlich zur Einheit Deutschlands führten.

Die Wende ist für den Mediävisten, der den Beginn der deutschen Reichsgeschichte überhaupt erst im elften und beginnenden zwölften Jahrhundert ansetzt und das mittelalterliche Römische Reich als davon abzuhebende Struktur eigener Art betrachtet, vor allem von nationalgeschichtlichem Interesse.

Unter diesem Gesichtspunkt behandelt Müller-Mertens sieben große Themenkomplexe (Mauerfall und Umsturz: Voraussetzungen und Umstand; Revolte und Revolution. Ende Juli bis 9. November 1989: Die DDR im Schwebezustand der politischen Macht; Die Frage der deutschen Einheit; Der Konflikt zwischen Opposition und Koalition; Die westdeutsch-bundesrepublikanische Intervention; Das Ende der revolutionären Situation und die Entscheidung über den Vereinigungsvorgang). Er analysiert insbesondere die Rolle der Bürgerbewegungen und Parteien sowie die Politik der Bundesregierung, die zunächst, und zwar noch vor dem 28.November 1989, von „dem Gedanken einer Vertragsgemeinschaft“, wie ihn Modrows Regierungsvorschlag enthielt, ausging, um dann „konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln“ (S. 45).

Provokant reflektiert Müller-Mertens die Vorstellung von einer deutschen Revolution sowie das Wirken der Opposition am „Runden Tisch“ wie das der Regierung Modrow. Detailliert werden die Auseinandersetzungen zwischen diesen über die Wege und den Inhalt der deutschen Vereinigung aufgezeigt.

Der Autor, für den die Vorgänge zwischen Oktober 1989 und Januar 1990 „nicht als Revolution verstanden werden“ können (S. 41), ortet z.B. das „Umkippen“ der Losung von „Wir sind das Volk!“ zu „Wir sind ein Volk!“ neu. Die Forderung „Wir sind ein Volk!“ wurde nicht, wie in der Literatur zumeist angegeben wird, auf der großen Montagsdemonstration in Leipzig am 27. November 1989 erhoben, sondern bereits zwei Tage früher, am 25.November auf einer wesentlich kleineren Demonstration in Plauen.

Doch anders als die „schweigende Mehrheit“ wollten die „oppositionellen Gruppierungen, die Friedens-, Menschenrechts- und Umweltbewegungen... die DDR nicht gegen die BRD eintauschen“ (S. 43). Auch der „Runde Tisch“, dessen Zusammensetzung und Sitzungen Müller-Mertens exakt verzeichnet, wollten „Kontrolle in unserem Land“ und lehnten den Bonner Zehn-Punkte-Plan prinzipiell ab. So erklärten z.B. „Revolutionäre Basisgruppen“ des Neuen Forums am 28. November: „Wir denken nicht daran, nachdem wir uns aus den Klauen des Stalinismus befreit haben, mit wehenden Fahnen in die soziale Ungerechtigkeit der Zweidrittelgesellschaft eines Herrn Kohl überzulaufen. Wir wollen die zur Zeit einmalige und wahrscheinlich letzte Chance wahrnehmen, um eine gerechte Gesellschaftsordnung aufzubauen.“ (S. 46)

Letztlich vermerkt der Autor kritisch, daß bei den oppositionellen Bewegungen stets nur die „Staatssicherheit“ und die SED, niemals aber der Staat im Mittelpunkt des Interesses gestanden habe. Niemals seien die Oppositionsgruppen in der DDR zu den eigentlichen politischen Grundfragen durchgestoßen. Weder im Osten noch im Westen Deutschlands gab es ein Vereinigungskonzept. Im Osten lag die Macht „schließlich auf der Straße und wurde von keiner gesellschaftlichen Kraft der DDR aufgegriffen“ (S. 41).


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite