Eine Rezension von Bernd C. Hesslein


Krieg ist ein Gesellschaftszustand

Vier Bücher zum Thema

Der Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 ist in diesem Jahr spurlos an der Öffentlichkeit vorübergegangen. Sie ist verschont worden von den Pflichtübungen amtlichen Gedenkens mit präsidialer Festansprache und buchsbaumbegrünter Trauerstunde im Bundestag. Nächstes Jahr ist es dann sechzig Jahre her, daß wir Deutschen die Welt in diesen Krieg gestürzt haben, und je nachdem, welche politische Couleur von uns zum Regieren ermächtigt worden ist, wird das öffentliche Gedenken ausfallen.

Das private Gedenken hat nie aufgehört und ist immer wieder mit Tagebüchern, Erlebnisberichten oder zu Romanen verarbeiteten Erinnerungen in Erscheinung getreten. Für die jüngste Folge von Kriegsliteratur, die sich wohltuend von der Rechtfertigungssucht unterscheidet, die den Inhalt der ersten Bücher dieses Genres nach dem Krieg bestimmte, ist nicht ohne Folgen, daß sie in die Diskussion um die Verbrechen der Wehrmacht hineinkommt, die durch die Wanderausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung vor drei Jahren in Gang gesetzt worden ist. Die Dokumente dieser Ausstellung haben ein neues Bewußtsein geschaffen, das die jahrzehntelang geübte Verdrängung und Verharmlosung der eigenen Rolle in diesem Eroberungs- und Vernichtungskrieg nicht mehr zuläßt. Zugleich haben sie damit einen neuen Maßstab für die Beurteilung dieser Art von Zeitzeugenliteratur gesetzt.

Schon aus diesem Grund nähert man sich mit Vorbehalten dem Buch Die Stunde Null, einem Sammelband von Erinnerungen an Kriegsende und Neuanfang prominenter Zeitgenossen wie Egon Bahr, Manfred von Ardenne, Gräfin Dönhoff, Markus Wolf und 28 anderen. Noch einmal, so fragt man sich, 32 Versionen der Stunde Null, die es ja nie gegeben hat? Die Stunde Null, das war doch die erste Lebenslüge, mit der wir uns aus der Verantwortung des bis zuletzt verteidigten Dritten Reiches zu ziehen versuchten. Der Begriff vermittelte das Gefühl von Neuanfang ohne Vergangenheit, so, wie man ein neues Blatt Papier beschreibt. In der Bonner Republik ist er zum Synonym für Vergangenheitsverdrängung geworden. „Vorwärts und alles vergessen“ hieß die politische Parole, die in Ludwig Erhards befreienden Ausruf „Wir sind wieder wer!“ mündete.

Doch nichts von all dem klingt in diesem von dem angesehenen ZDF-Journalisten Gustav Trampe herausgegebenen Sammelband an. Die Stunde Null ist oft nur eine Häufung diskrepanter Ereignisse, „in denen jeder das Ende des Dritten Reiches anders erlebt hat“, wie Egon Bahr anmerkt. So wie es für den Jagdflieger Helmut Eberspächer bereits der 6. Juni 1944 war, als er die Landung der Alliierten auf der Halbinsel Cotentin wie ein gigantisches Schauspiel aus der Luft beobachtet, so war es für den KZ-Häftling Erwin Geschonneck die Rettung von dem in Brand geschossenen Schiff „Cap Arcona“ in der Lübecker Bucht am 3.Mai 1945, also fünf Tage vor der bedingungslosen Kapitulation.

Gustav Trampe ist mit den von ihm versammelten Zeitzeugen ein eindrucksvoller Querschnitt deutscher Schicksale am Ende des Dritten Reiches gelungen, wozu der glückliche Umstand beiträgt, daß keiner der namhaften Autorinnen und Autoren ins gefällige Reminiszieren verfällt. Die eigens für diesen Band aufgeschriebenen Erinnerungen sind geformt von der Verarbeitung des Erlebten. Ihre Eindringlichkeit entspringt der Bereitschaft zur Reflexion des Ausgeliefertseins am Ende des Krieges: Ob als Soldaten wie Erich Mende in der untergehenden Wehrmacht und Thilo Koch, der sich nach dem Waffenstillstand in Italien von der Truppe absetzte, ob als KZ- und Sippenhäftlinge wie Renate Harpprecht und die Goerdeler-Tochter Marianne Meyer-Kramer oder ob als Exilanten wie Wolfgang Leonhard und Stefan Heym, die mit den Siegermächten heimkehrten.

Selten ist die fromme wie verlogene Legende von der Stunde Null so decouvriert worden wie in diesem Buch, das diesen Titel trägt. Der Krieg war zu Ende, doch das Denken der Menschen hatte keineswegs bedingungslos kapituliert. „In den ersten Monaten nach Kriegsende waren viele Menschen auf der Suche nach einem neuen Anfang. Aber eine Stunde Null gab es nicht, weder geistig, noch politisch, noch materiell“, schreibt Annemarie Renger, die Weggefährtin Kurt Schumachers nach dem Krieg und spätere Präsidentin des Deutschen Bundestages.

„Krieg ist ein Gesellschaftszustand“, hat Jan Philipp Reemtsma im März 1995 bei der Eröffnung der Ausstellung „Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ angemerkt und hinzugefügt: „Wenn in einer Gesellschaft das - wie man sagt -,Verbrechen überhandnimmt‘, fragt man sich, was da schiefgegangen sei.“ Die Zeitzeugen dieses Buches mit ihren unterschiedlichen Schicksalen geben mit ihren Erinnerungen recht unterschiedliche Antworten. Aber eben Antworten. Das ist mehr, als man von dieser Generation gewohnt ist. Zugleich machen sie klar, was in einer so gegenwartsfixierten Zeit verlorenzugehen scheint: Daß Vergangenheit nie tot ist.

Von all solchen Anregungen und Nachdenklichkeiten kann bei einem anderen Erinnerungsbuch mit dem lapidaren Titel Krieg nicht die Rede sein. Erzählungen aus dem Schweigen nennt der Herausgeber Carl Schüddekopf seine Tonbandprotokolle, die er von Gesprächen mit ehemaligen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges gemacht hat. Sie summieren sich jedoch zu einer recht eindimensionalen Ansammlung von Landsererzählungen, ohne Tiefe und Reflexion. Da ist kein Erschrecken im nachhinein darüber, an diesen Feldzügen teilgenommen zu haben. Auch kein Gedanke an das verursachte Leid und die angerichtete Zerstörung. Reminisziert wird lediglich das eigene Elend, die Verwundungen und die Strapazen. So reden Veteranen über ihre Kriegserinnerungen, wenn sie unter sich sind.

Carl Schüddekopf, Jahrgang 1946, war (wie er im Nachwort schreibt) in seinen Kinder- und Jugendjahren tief beunruhigt und bestürzt über das beharrliche Schweigen der Vätergeneration. Nun hat er sein Tonbandgerät genommen und gefragt. Herausgekommen ist ein Greisengemurmel und der traurige Beleg, daß auch nach über fünfzig Jahren von diesen ehemaligen Wehrmachtsoldaten kein einziges nachdenkliches Wort zu erwarten ist. Eben ganz normale Deutsche.

Daß es auch anders geht, zeigt auf wunderbare und anrührende Weise Lore Walb mit ihrem Buch ICH, DIE ALTE - ICH, DIE JUNGE. Es ist, wie sie es selber nennt, eine Konfrontation mit ihren Tagebüchern aus den Jahren 1933 bis 1945. Für den Leser ist es ein einmaliges und mutiges Unterfangen, das die Rundfunkjournalistin nach ihrer Pensionierung zögernd und suchend beginnt. Äußere Anlässe sind für sie Anstöße, ihr Leben und ihre Wahrnehmungen in der Hitlerzeit einer Rückschau zu unterziehen. Dazu gehörten 1984 die Rede von Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1945 und ein Jahr darauf der mehrteilige Film „Shoah“ von Claude Lanzmann; 1988, zum 50. Jahrestag, das nicht mehr verschämte Gedenken an die Reichskristallnacht im November 1938. Anlässe also, die in der Öffentlichkeit lange und breite Diskussionen auslösten, vor allem über die Gretchenfrage: „Was hast du gewußt?“ Doch wen aus der Generation von Lore Walb, Jahrgang 1919, hat es danach gedrängt, sich aus der von Theodor Heuss empfohlenen „kollektiven Scham“ zu lösen und sich der schmerzhaften Frage anhand des eigenen Lebenslaufes zu nähern?

Die Tagebücher waren dabei Hilfe und Last zugleich. „Nie zuvor“, schreibt Lore Walb an einer Stelle, „habe ich mich so tief auf diese schmerzhafte Lektüre eingelassen wie in diesen Wochen. Was der Erinnerung in neblige Ferne entglitten ist, zerren meine Tagebücher gnadenlos ans Licht.“

Akribisch notiert die damals Zwanzigjährige die Meldungen der Wehrmachtberichte und versieht sie mit Kommentaren: „14. VI. 40: Feldzug in Norwegen zu Ende!“ ... „Paris in deutscher Hand!“ ... „Verdun mit allen Forts gefallen!“ ... „Ein wunderbarer, großer Tag!“ Mehr als ein halbes Jahrhundert danach merkt Lore Walb dazu an: „Immer wieder diese Bestätigung, wir erleben wirklich große Geschichte, jeder Tag ist historisch, noch unsere Nachkommen werden darüber sprechen, und wir waren die Macht, brauchten uns dem Schicksale nicht ausgeliefert zu fühlen.“

Doch auch Nachdenkliches, wenngleich im Geiste der Zeit, enthalten die Tagebucheintragungen. Unter dem 25. Juni 1940 schreibt „Ich, die Junge“: „Wie wird sich der Verlust an jungen Männern in Frankreich auswirken? In Deutschland reißen die Gefallenen schon eine große Lücke - aber wir haben doch doppelt soviel Menschen in unserem Volk. Aber Frankreich, eine vergreiste Nation, rassisch nicht mehr einwandfrei - wird es sich erholen? Wenn sein Geist stark wäre wie der deutsche nach Versailles, dann müßte es diesen Krieg überwinden können. Ob wohl das Rassenproblem in Frankreich, in Europa überhaupt, eine Lösung findet, wenn Frieden geschlossen wird?“

„Ich, die Alte“, merkt dazu betroffen an: „Zum erstenmal tauchen hier Rassenschlagworte auf. Ich muß mir eingestehen, und das macht mir ein sehr elendes Gefühl, daß ich diese Unwerttheorien der nationalsozialistischen Ideologie ohne den geringsten Zweifel, ohne die kleinste Anstrengung zu eigenständigem Denken übernahm.“

„Ich mußte alt werden und reif für dieses Buch“, läßt die Autorin fast beiläufig den Leser wissen, und man begreift das ganze Ausmaß dieses Satzes, wenn man ihrer vielseitigen Erinnerungsarbeit folgt. Lore Walb begnügt sich nicht mit der Herzklopfen verursachenden Konfrontation mit ihren Tagebüchern. Sie zählt in jedem Jahr unter dem Rubrum „Was fehlt in diesem Tagebuch?“ eine Reihe von Ereignissen auf, die in ihren ansonsten so detaillierten Anmerkungen zur Politik einfach fehlen. Zum Beispiel die Nürnberger Rassegesetze vom 15. September 1935, deren Auswirkungen in den Schulen, in den Geschäften und Restaurants, vor allem aber in den Zeitungen für jedermann sichtbar waren. Kein Wort davon in den Tagebüchern.

„Und das alles weißt du nicht mehr???“ fragt sich Lore Walb und antwortet sich selber: „Nein, davon weiß ich nichts mehr. Ich habe das Unrecht, das vor meinen Augen an Juden begangen wurde, verdrängt.“ Diese Verdrängung sei so perfekt und für immer gelungen, daß sie erst durch Bücher und Dokumente, die sie gelesen und sich besorgt habe, von der damaligen brutalen Wirklichkeit Kenntnis genommen habe.

Die Nachträge zu den Tagebüchern verhelfen nicht nur zum besseren Verständnis, weil sie den geschichtlichen Hintergrund zu den persönlichen Aufzeichnungen deutlich machen. Sie sind auch so etwas wie eine Gebrauchsanweisung für diejenigen, die unter ihren eigenen Vergangenheitsverdrängungen leiden oder einfach nicht damit zurechtkommen.

In ihrer lesenswerten Einleitung, die Lore Walb „Stationen eines Weges zur Erinnerungsarbeit“ nennt, zitiert sie kommentarlos die Bemerkung einer guten Bekannten: „Ihre Schuldgefühle wegen der Nazizeit würde ich Ihnen gerne austreiben.“

Gut, daß die Autorin auf diese Stimme des Volkes nicht gehört hat.

Gustav Trampe (Hrsg.): Die Stunde Null - Erinnerungen an Kriegsende und Neuanfang
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1995, 318 S.

Carl Schüddekopf (Hrsg.): Krieg. Erzählungen aus dem Schweigen. Deutsche Soldaten über den Zweiten Weltkrieg.
Rowohlt Verlag, Reinbek 1997, 333 S.

Lore Walb: ICH, DIE ALTE - ICH, DIE JUNGE
Konfrontation mit meinen Tagebüchern 1933-1945.
Aufbau-Verlag, Berlin 1997, 369 S.

Krieg ist ein Gesellschaftszustand
Reden zur Eröffnung der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“.
Hamburger Edition, Hamburg 1998, 214 S.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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