Eine Rezension von Horst Wagner


Plädoyer für eine menschliche Gesellschaft

Friedrich Schorlemmer: Eisige Zeiten

Ein Pamphlet.

Siedler Taschenbuch, München 1998, 198 S.

Es ist ein schmales Büchlein, doch wieviel Gewicht hat es. Wieviel Liebe zu den Menschen enthält es und wieviel Zorn über unmenschliche Zustände. Wieviel Gedankenreichtum ist darin konzentriert und welche Sprachgewalt. Friedrich Schorlemmer, Theologe, Studienleiter an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, hat der Kette seiner Publikationen ein besonders scharf geschliffenes Stück hinzugefügt. „Ich kann nicht anders, als leidenschaftlich nach den Ursachen für alles Übel zu suchen“, formuliert der heutige Prediger zu Wittenberg, ganz in Luthers Tradition stehend, gleich auf den ersten Seiten sein Bekenntnis. Ein Credo, gestern wie heute durch Haltungen und Taten belegt. Unter den Akteuren des Wende-Herbstes ragt Schorlemmer (er war Mitbegründer der Bürgerbewegung „Demokratischer Aufbruch“ und danach in der SPD engagiert) als einer heraus, der sich weder angepaßt noch in eine Nische zurückgezogen hat. Auch unterscheidet er sich deutlich von jenen „vielen Bürgerrechtlern“, die nach seinen Worten lediglich „den heiligen Blick zurück im Zorn“ haben und „unentwegt das Leiden an den vorenthaltenen individuellen und politischen Menschenrechten“ beklagen, „statt sich nun engagiert dem Erhalt und dem Ausbau sozialer Menschenrechte zuzuwenden“ (S. 127).

Eisige Zeiten prangert die zunehmende soziale Kälte in der Bundesrepublik an. Dem Neoliberalismus der neudeutschen Gesellschaft, in der „das Kapital regiert“ und „Kälte als Überlebensprinzip gilt“, setzt Schorlemmer sein „Menschsein ist allemal Mitmenschsein und -bleiben“ entgegen (S. 169). Dabei übersetzt er die frommen Gleichnisse des Evangeliums ebenso in Heutig-Weltliches wie Gedanken moderner Philosophen (z. B. eines Erich Fromm) vom „Haben oder Sein“ ins Allgemeinverständlich-Praktische.

Im ersten Kapitel „Eiszeit der Seele“ geht er sowohl mit der Verblödung durch Medien ins Gericht als auch mit der „Untergrabung des Lebensstandortes“ durch die Fetischisierung des „Wirtschaftsstandorts“. Er nennt die Vereinigung „pure Selbstbestätigung von Siegern, die mit der ganzen Perfektion und Kälte ihres Rechtsstaates über das Territorium der DDR gingen und es neu vermaßen und mit alten Eigentumsansprüchen belegten“ (S. 19). Im anschließenden „Krieg gegen die Bäume“ beschäftigt er sich mit der „falschen Weltenteilung“ zwischen armen und reichen Ländern und gibt zu bedenken, was wohl passieren würde, wenn „eine Milliarde Chinesen und 800 Millionen Inder auch ein Menschenrecht auf Auto anmelden“ würden (S. 43). In „Die Hängematte der Reichen“ und „Markt vor Mensch“ macht er uns mit der wachsenden Zahl der Milliardäre bekannt, setzt sich für eine „öffentliche Debatte über die Grenzen des Eigentums“ (S. 69) ein und fordert, daß „der Markt um des Menschen willen da ist und nicht der Mensch um des Marktes willen“ (S. 98). Noch einmal auf die Standortdebatte zurückkommend, prangert er im Kapitel „Mit der Wahrheit lügen“ an, daß dabei „alles aufs Ökonomische reduziert wird, als ob dieser Ort nicht auch ein Standort für Leben und Lieben, für Kunst und Kultur, für Soziales und Geschichte sei“ (S. 102). In „Fressi frißt Flossi“ beschäftigt sich Schorlemmer mit den „west-östlichen Querelen“, stellt fest, daß das, „was man Vereinigung nennt ..., im Ganzen ein einseitig und eingleisig verlaufender Anpassungsprozeß der Ost-Deutschen an westdeutsche Verhältnisse“ ist (S. 140), und schlägt - bezogen auf die Entwicklung der deutschen Literatur in den Jahren der Teilung - vor: „Ich glaube, wir würden uns besser verstehen, wenn wir die Bücher von damals heute neu läsen und sie einander erklärten.“ (S. 131) In „Die instrumentalisierte Gemeinheit“ werden die (auch als Methode des Personalabbaus verwendeten) „45 Handlungen des Mobbing“ mit den von der Stasi aufgestellten „Regeln der Zersetzung“ verglichen und festgestellt: „Jedenfalls ist die moralische Entrüstung über die furchtbaren Machenschaften des Mielke-Ministeriums solange bigott, wie in dieser Gesellschaft nicht solche alltäglichen Machenschaften zum öffentlichen Thema gemacht werden.“ (S. 158)

„Herz kann man sich in dieser Gesellschaft gar nicht leisten. Das ist der entlarvendste Satz über die herzlose Kälte einer Effizienzgesellschaft“, heißt es im Kapitel „Die Kosten des hippokratischen Eides“. Im abschließenden „Für ein anderes Klima“ beschreibt Schorlemmer, an Rembrandts Gemälde „Mose zerbricht die Gesetzestafeln“ erinnernd, den „inneren Zustand unserer westlichen Wertewelt nach dem Zusammenbruch des Kommunismus“ als „die Selbstzerstörung der Grundlagen unseres Zusammenlebens durch die Demontage nicht nur der Werte, sondern auch der Gemeinschaften, in denen diese Werte bisher gebildet, ausprobiert, bewährt und bewahrt wurden“ (S. 180). Den Ausweg sieht Schorlemmer dabei im demokratischen Diskurs, „um die Tragfähigkeit des Alten in der neuen Situation zu überprüfen“.

Als Zielzuweisung mag manchem Leser dieses Schlußkapitel zu unbestimmt erscheinen. Dafür haben es die Seiten zuvor an Klarheit der Gedanken und Forderungen wahrlich nicht fehlen lassen. Schorlemmers Eisige Zeiten ist in der Tat „eines der wichtigsten Bücher der jüngsten Zeit“, wie auf dem Werbetext eine große linke Tageszeitung zitiert wird.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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