Eine Rezension von Gerd-Rüdiger Stephan


Rien ne va plus - Nichts geht mehr?

Gerhard Schiesser/Jochen Trauptmann: Russisch Roulette

Das deutsche Geld und die Oktoberrevolution.

Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1998, 320 S.

„Der bolschewistische Sieg in der russischen Oktoberrevolution von 1917 ist von Anfang an und über die ersten komplizierten Jahre hinweg auch die Folge einer einzigartigen, historisch beispiellosen Verschwörung zwischen den Bolschewiki unter Lenins Führung und den Deutschen.“ Diese kühne Behauptung verkündet der Klappentext des vorliegenden Bandes. Die Recherchen der Autoren, offenbar im Zusammenhang mit der Produktion von Fernsehdokumentationen durchgeführt, ergaben: Millionenbeträge in Mark und Rubel flossen aus den Kassen des Deutschen Kaiserreichs in die Finanzierung der russischen Revolutionäre. Die Deutschen spekulierten auf die Schwächung des Russischen Reiches und einen Separatfrieden. Lenin, in ihren Augen zunächst eine geeignete Marionette, sollte den Kredit auf spezifische Weise zurückzahlen.

Als Aufhänger für die Darstellung der Ereignisse dient eine diplomatische Mission, die der „Special Representative“ des USA-Präsidenten Woodrow Wilson, Edgar Sisson, Anfang 1918 an der amerikanischen Botschaft in Sowjetrußland durchführte. Sisson gelangte dabei in den Besitz von Geheimpapieren, die für ihn bedeuteten: „Der deutsche Generalstab hat die russische Oktoberrevolution mitgeplant, die deutsche Reichsbank hat Lenins und Trotzkis Revolution gegen das Zarenregime vor- und durchfinanziert. Ein Roulettespiel mit nicht geringem Risiko, bei extrem hohen Rendite-Erwartungen. Das Ganze ist nichts Geringeres als der Versuch des deutschen Generalstabes, die zaristische Armee und damit die Ostfront durch die Unterstützung Lenins und der Bolschewiki von innen und außen aufzulösen und dem deutschen Kapital den Weg in die unendlichen russischen Weiten freizumachen.“ (S. 17) Der Diplomat floh mit den Dokumenten spektakulär über Skandinavien in die USA und erhoffte sich Ruhm und Ehre. Die Papiere erwiesen sich jedoch als Fälschung, was Sisson bis an sein Lebensende nicht wahrhaben wollte. Doch, so die Autoren, „das für ihn wirklich Tragische ist, daß seine falschen Dokumente inhaltlich im großen und ganzen doch die historische Wahrheit sagen.“ (S. 260)

Zum Kern der Geschehnisse: Die Kontakte zwischen der deutschen Regierung und den Bolschewiki beruhten von deutscher Seite aus auf dem Kriegszielprogramm von 1914. Die Verfasser bemerken, daß in diesem Zusammenhang seitens des deutschen Kaisers und seiner Berater die sogenannte Revolutionierungsidee entstand: „Eine Revolution soll das Zarenregime sprengen.“ (S. 27) Das Revolutionierungsprogramm schloß selbstverständlich subversive Aktivitäten ein. Die Koordinierung dieser Pläne und deren Ausführung erfolgte durch das Auswärtige Amt in Verbindung mit einer Sektion des deutschen Generalstabes. Als Schlüsselfigur tauchte bald der Name Dr. Alexander Helphand-Parvus auf, der mit einer Handelsgesellschaft an zahlreichen geschäftlichen Transaktionen in den Weltkriegswirren engagiert war. Ende Dezember 1915 wurde die erstaunliche Summe von einer Million Rubel vom deutschen Auswärtigen Amt an Helphand-Parvus gezahlt - und dies mit der ausdrücklichen Maßgabe „Förderung der revolutionären Bewegung in Rußland“. Es schlossen sich weitere beträchtliche Zahlungen an. Die näheren Einzelheiten finden sich in mehreren Kapiteln des Bandes.

Inmitten der zugespitzten Situation in Rußland nach der Februarrevolution von 1917 wird weiterhin sehr detailliert die bereits vielfach beschriebene Reise Lenins im verplombten Sonderzugwagen vom 9. bis zum 14. April 1917 von Zürich durch ganz Deutschland nach Petrograd geschildert. Die Autoren kommentieren: „Der deutsche Kaiser und seine Strategen sind natürlich nichts weniger als Friedensfreunde oder gar Freunde des russischen Revolutionärs Uljanow-Lenin. Sie brauchen lediglich den ,Sonderfrieden‘ im Osten, damit sie alle Kräfte für ihren ,Siegfrieden‘ im Westen einsetzen können. Die Revolution im Osten bleibt nur ein strategisches Mittel für den großen Gewinn im Westen, an den die Deutschen nach drei zermürbenden Kriegsjahren immer noch nicht herangekommen sind. - Und es sieht schlecht aus an der Westfront, schlechter den je, niemand weiß noch, ob militärisch überhaupt etwas zu erreichen sein wird.“ (S. 139) Die Reise Lenins stand demzufolge wieder im unmittelbaren Zusammenhang mit dem deutschen Kriegszielprogramm von 1914. Dies habe auch die „graue Eminenz“ im deutschen Generalstab, Erich Ludendorff, berücksichtigt, als er auf telefonische Anfrage seine Zustimmung zur Zugdurchfahrt gab - obwohl er über Lenin eigentlich gar nichts Konkretes wußte.

Einige Monate später erfolgte die Machtübernahme der Bolschewiki in Rußland. „Vollkommen undramatisch“, so beschreiben es Schiesser und Trauptmann, besetzten die Gefolgsleute Lenins in der Nacht vom 25. zum 26. Oktober 1917 (nach russischem Kalender) in Petrograd die wichtigsten strategischen Punkte: „Nirgends Widerstand, kaum sind Schüsse zu hören. Die Brisanz dieses zu Beginn stillen Revolutionsvorganges liegt in den blutigen Kämpfen ohne Ende, die folgen werden.“ (S. 178)

In den Kontext des geschilderten deutsch-russischen Beziehungsgeflechtes sind auch die nachfolgenden Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk zu stellen. Schon bald nach Beginn der Gespräche Ende Dezember 1917 mußte dabei die russische Delegation erkennen, daß die Deutschen weiterhin auf Annexion setzten. Lenins Einschätzung, daß eine Fortsetzung der Kampfhandlungen für Rußland aussichtslos wäre, setzte sich nur schwer durch. Schließlich unterschrieben die Bolschewiki die deutschen Forderungen. Die Russen hatten da nichts mehr zu verhandeln, meinen die Buchautoren.

Doch Deutschland zahlt wenig später gleichfalls einen hohen Preis. Die Lage in Rußland hatte sich durch die Bürgerkriegswirren immer weiter verschärft. Der erste deutsche Botschafter in Sowjetrußland, Graf Mirbach, meldete im April 1918 den Bedarf von etwa drei Millionen Mark monatlich, um die Lenin-Regierung an der Macht zu erhalten. Ein Sturz der Bolschewiki habe für die Deutschen unkalkulierbare Folgen, nur sie würden die Vereinbarungen von Brest-Litowsk anerkennen. „Lenin weiß genau, daß die Deutschen den von allen Seiten attackierten Sowjetstaat ,mit allen Mitteln‘ erhalten müssen, um ihre Ostpolitik noch durchsetzen zu können. Und sei es mit dem kleineren Übel, den Bolschewiki, mit dem sich die Deutschen abfinden müssen.“ (S. 227) Den zitierten Schriftwechseln nach wurden von Deutschland dafür 40 Millionen Mark bereitgestellt!

Schließlich schildern die Autoren, wie sich in der sowjetrussischen Botschaft in Berlin im Verlauf des Jahres 1918 gleichzeitig sowohl die deutschen Industriemagnaten als auch deutsche Revolutionäre die Klinke förmlich in die Hand gaben. Die ersteren bedrängten die Sowjets förmlich mit Geld, langfristigen zinsgünstigen Krediten, und spekulierten auf hohe Rendite. Letztere benötigten Geld für ihre Propaganda und ihre Aktionen. So flossen offenbar die deutschen Gelder „wieder aus Moskau ,zurück‘, gewissermaßen zur ,Revolutionierung des deutschen Kaiserreichs‘“ (S. 230).

Als die Lage in Deutschland im Herbst 1918 eskalierte, erfolgte noch die Ausweisung des russischen Botschafters. Doch kurz darauf erreichten die Bolschewiki scheinbar ihr Ziel. Die deutsche Novemberrevolution zwang den Kaiser zur Abdankung. Schiesser und Trauptmann merken an, daß er zur Flucht nach Holland gezwungen wurde; der russische Zar war bereits erschossen worden.

„Deutsch-sowjetische Kungeleien werden jedenfalls in diesem Jahrhundert zu keinem Zeitpunkt enden - noch nicht einmal dann, als sie wieder deutsch-russische genannt werden müssen.“ (S. 234) Dieser Satz bildet ein überwiegend resignatives Fazit der Autoren, die aus zahlreichen Dokumenten eine spannende Geschichtsetappe rekonstruiert haben. Die geschilderte Entwicklung zeigt interessante Analogien und Mechanismen politischer Ränke auf, die präsentierten Details ergänzen bisher unvollständige Kenntnisse.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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