Eine Rezension von Bernd Grabowski


Verdienstvolle Dokumentation, doch nicht ohne Mängel

Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Friedrichshain und Lichtenberg

Schriftenreihe „Widerstand in Berlin von 1933 bis 1945“. Bd. 11.

Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 1998, 352 S.

„Da öffnete sich die Zugtür, ich verlor die Balance, flog raus, riß aber instinktiv die Arme hoch und hielt mich an einer Kabelstange fest“, berichtet Gerhard Wünschmann, der in den 30er Jahren zu einer antifaschistischen Jugendclique am Andreasplatz im Berliner Osten gehörte. Er war zusammen mit Fritz Sprung, einem Arbeitskollegen und Cliquenkameraden, mit der U-Bahn auf dem Weg zum Reichssportfeld, wo es anläßlich des Mussolini-Besuches eine Großkundgebung mit Feuerwerk geben sollte. Auch Fritz Sprung wurde in der Kurve aus dem Zug geschleudert, landete auf einer Stromschiene und wurde dann überfahren. So kam es an jenem 28. September 1937, wie Hans-Rainer Sandvoß in seinem neuesten Band der Reihe „Widerstand in Berlin 1933-1945“ meint, nicht zur Ausführung eines „wohl bis jetzt unbekannt gebliebenen politischen Vorhabens“. Denn später fand man im Zugabteil die Lederjacke des tödlich Verunglückten und stieß dabei auf gefälschte Papiere und eine Pistole. „Er hatte offenbar vorgehabt, den Krach des Feuerwerks für ein Attentat zu nutzen“, vermutet Gerhard Wünschmann. „Diese Absicht von Fritz Sprung war mir rückblickend auch durch die Tatsache deutlich geworden, daß er im Lokal Blumenstraße ein Mussolini-Foto mit einem Messer an die Wand genagelt hatte. Vielleicht wollte er Hitler gleich mit umbringen.“

Der Band Widerstand in Friedrichshain und Lichtenberg ist ähnlich aufgebaut wie die ebenfalls von Sandvoß verantworteten zehn Hefte, die bereits zu anderen Berliner Stadtbezirken erschienen sind. Neben solchen informellen Gruppen wie jener Jugendclique widmet er sich vor allem dem politischen Wirken linker Parteien und Organisationen sowie religiöser Vereinigungen. Obwohl eigentlich nicht ganz zum Thema „Widerstand“ gehörend, geht er zu Recht auch auf die Verfolgung aus rassischen Gründen ein. Außerdem sind die drei auch überregional bedeutenden Haft- und Verfolgungsstätten im Berliner Osten näher beleuchtet, nämlich das Frauengefängnis in der Barnimstraße, das sogenannte Arbeitserziehungslager Wuhlheide und das „Zigeunerlager“ Marzahn. Eine Fülle von Abbildungen sowie die grafische Hervorhebung der Dokumente erhöhen die Anschaulichkeit. Offenbar ist der Quellenlage geschuldet, daß manchmal die Aktionen des Widerstandes weniger ausführlich dargestellt sind als die Strafverfolgung durch die Nazijustiz.

Der große Vorzug dieser Schriftenreihe kommt auch im neuesten Band voll zum Tragen. Mit authentischem Material, größtenteils Berichte der Überlebenden, ist weniger das Handeln von Parteien, sondern vielmehr ein Mosaik des Widerstandes einzelner, zum Teil organisiert zusammenwirkender Menschen gezeichnet. So wird Geschichte lebendig und anschaulich.

Das ist um so wichtiger, da die Kenntnis jener Epoche unter Jugendlichen derzeit erschreckend gering ist. So stellte man vor wenigen Monaten bei einer deutschlandweiten Forsa-Umfrage fest, daß 59 Prozent der 14- bis 18jährigen nicht wissen, was in der sogenannten Reichskristallnacht 1938 geschah. Und nahezu jeder dritte wußte nicht, daß Auschwitz der Name eines Vernichtungslagers ist. Erfreulich, daß jetzt Schulen der betreffenden Berliner Stadtbezirke diese neue Veröffentlichung in ihren Unterricht einbeziehen.

Doch dabei sind die Lehrer gefordert, die zahlreichen Mängel der ersten Auflage mit ihrem Fachwissen auszugleichen. Denn leider hat der Bearbeiter dieser sonst außerordentlich verdienstvollen Dokumentation es an der nötigen Akribie fehlen lassen. Das fängt bei den Orthographie- und Interpunktionsfehlern an. Doch gravierender sind andere Unzulänglichkeiten.

Bleiben wir bei der eingangs zitierten Episode. Zunächst vermißt man eine genauere Bezeichnung der Quelle. Es ist zwar völlig legitim, im Interesse der Lesbarkeit „auf einen detaillierten Anmerkungsapparat“ zu verzichten, wie dazu im Vorwort erklärt wird. Doch eine Reihe von Berichten ist dagegen mit groben Hinweisen auf Bücher oder Zeitungen versehen, hier dagegen erscheint nur der Name des Informanten und die Jahreszahl des Berichtes.

Selbstverständlich hat der Herausgeber die Dokumente mit Ergänzungen und Korrekturen versehen, sofern er es für nötig erachtete. So ist hier statt „Feld“ Reichssportfeld ergänzt, aber nicht auf die heutige Bezeichnung Olympiastadion verwiesen worden. Noch verwirrender ist die Angabe der U-Bahn-Station Reichskanzlerplatz, der zur damaligen Zeit Adolf-Hitler-Platz hieß und heute den Namen Theodor-Heuss-Platz trägt. Denn nach selbstgewählter Verfahrensweise sind bei Anschriften „überwiegend“ (warum nur überwiegend und nicht durchgängig?) „die alten Straßennamen und Hausnummern angegeben. Veränderungen, soweit bekannt, erscheinen in Klammern und sind dem Straßenverzeichnis im Anhang zu entnehmen“. Vermutlich hat Sandvoß hier nicht den alten Namen gewußt oder hatte eine Scheu davor. Denn immerhin ignoriert er auch den Namen Hitler im teilweise nach dem Zufallsprinzip erstellten Register, was durch diese Verfahrensweise höchst unzuverlässig und nur von geringem Wert ist. Auch die Liste der „Gedenktafeln - Gedenkorte - Gräber“ ist unvollständig.

Zudem ist auf eine wichtige Ergänzung zu diesem Erinnerungsbericht verzichtet worden. Sandvoß versäumte, das leicht zu ermittelnde Datum des verhinderten Hitler- und Mussolini-Attentates mitzuteilen. Außerdem hielt er es nicht für erforderlich, eine Korrektur anzubringen. Ein solcher Anschlag mit einer Pistole sei nämlich leicht möglich gewesen, glaubt der zitierte Zeitzeuge Jahrzehnte später, denn die Nazis hätten „bei der stark NS-gläubigen Menge“ 1937 keinerlei Sicherheitsvorkehrungen für erforderlich gehalten.

Auch an anderen Stellen trifft man auf Formulierungen, die von einer nicht ausreichenden Sorgfalt beim Schreiben künden. Da ist zum Beispiel von „vollbeschäftigten Rüstungsbetrieben“ die Rede, die schon 1934 „gezwungen“ seien, „ehemalige Kommunisten“ einzustellen, wobei dagegen in der ganzen Zeit des „1000jährigen Reiches“ sogar derzeitige Kommunisten ganz freiwillig von den Betrieben eingestellt wurden. Abzulehnen ist die Wortverbindung „illegale Juden“, denn kein Mensch ist illegal, auch wenn er angesichts der ständigen Todesdrohung im Untergrund leben muß.

Bleibt zu wünschen, daß das Buch mit kritischem Blick gelesen wird und es rasch eine überarbeitete Neuauflage erfährt.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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