Eine Rezension von Martin Kuchenbecker


Ein etwas unkritischer Gang durch Berlins Mitte

Kurt Ihlenfeld: Stadtmitte

Kritische Gänge in Berlin.

Verlag Frieling & Partner, Berlin 1997, 319 S.

Es ist Dezember 1962. Kurt Ihlenfeld, promovierter Pfarrer und praktizierender Publizist, kommt in Berlin an einer Baustelle vorbei. Was mag da wohl gebaut werden, möchte er wissen. Ein Gemeindehaus etwa? Er erkundigt sich bei einem der Arbeiter. „Nee“, sagt ihm darauf der Mann, „von de Kirche is et nich.“ Auch eine Nachfrage bei einem seiner Kollegen bleibt ohne Erfolg. „Offenbar“, so schlußfolgert nun Ihlenfeld in seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen, „ist es möglich, an einem Bau zu arbeiten, ohne zu wissen, was eigentlich daraus wird. Doch schließlich gilt das von allem, was wir tun.“

Das mag für jene Bauleute und auch für den Autor zutreffen; seine bereits 1964 in einem anderen Verlag erschienenen Kritischen Gänge in Berlin könnten dafür ein Beleg sein.

So hat Ihlenfeld ein Buch geschrieben, aber nicht gewußt, welches. Es läßt sich nicht einmal feststellen, ob „et von de Kirche is“. Selbstverständlich kreisen seine Gedanken öfter um religiöse Themen, doch weltliche Probleme sind weit in der Überzahl. Sicher scheint jedoch, daß der Autor den Titel seines Buches nicht kannte. So wie jene Bauleute unwissend Stein auf Stein fügten, so reihte Ihlenfeld Satz an Satz. Entstanden ist ein Sammelsurium geistreicher und banaler Sentenzen ohne inneren Zusammenhang.

„Stadtmitte“ - ja, das Wort findet sich auf den über dreihundert Seiten vielleicht drei- oder viermal, woran dann nur spärliche Äußerungen anknüpfen. Gemeint ist damit nicht, wie man vielleicht bei einem Westberliner vermuten könnte, das Westberliner Stadtzentrum um den Bahnhof Zoo, sondern tatsächlich der Ostberliner Bezirk Mitte. Beide Zentren spielen in seinen weitschweifenden Überlegungen über Gott und die Welt nur eine marginale Rolle. Wenn er von seiner Wohnung in Zehlendorf aus überhaupt „kritische Gänge in Berlin“ unternimmt, sind sie - wie im eingangs zitierten Beispiel - meist nicht näher lokalisierbar oder führen durch Viertel an der südlichen oder westlichen Peripherie der Stadt. Nur im Zusammenhang mit der ein paarmal erwähnten Mauer, die ja Berlin-Mitte an drei Seiten umfaßte, spricht er von Stadtmitte, empört darüber, daß sogar eine U-Bahn-Station dort noch immer so heißt. Betreten hat er die Stadtmitte wahrscheinlich nie.

Die Aufzeichnungen, die ohne erkennbaren Anlaß im Mai 1961 abbrechen, setzen am 9.Oktober 1961 wieder ein, als Ihlenfeld aus seinem dreimonatigen Nordseeurlaub mit einem „Nachtflug über die lichtlose Ostzone, über den Lichterteppich von West-Berlin“ wieder zurückkehrt in die nun in der Zwischenzeit mit einer Mauer durchzogenen Stadt. „Jetzt heißt es, die veränderte Stadt sich wieder neu anzueignen“, fühlt sich der damals 60jährige herausgefordert und fragt sich: „Wie macht man das?“ Ob Ihlenfeld sich nun die veränderte Stadt aneignet, indem er unverzüglich das die Stadt verändernde Bauwerk Mauer in Augenschein nimmt? Weit gefehlt: „Der erste Weg führte zu den Gräbern, bei hellem, starkem Sonnenschein, bei feierlicher Stille.“ Warum zu den Gräbern, zu wessen Gräbern, auf welchen Friedhof? Der Leser wird mit seinen Fragen allein gelassen. Auch der zweite Weg des freiberuflichen Schriftstellers hatte nicht die Mauer zum Ziel, sondern eine Kunstausstellung. Dann ist wieder Erholung angesagt, ein Ausflug auf die Pfaueninsel. Doch nun ist wohl die Mauer an der Reihe? Noch lange nicht. Schließlich hat es erneut wichtige Veränderungen in Berlin gegeben, die uns Ihlenfeld unbedingt mitteilen muß: „Trübe, kühl. Zum erstenmal geheizt.“

Aber immerhin könnte die Mauer damals bei Dr. Ihlenfeld, Mitglied der Westberliner Akademie der Künste, wenigstens in Gesprächen wie im Denken Thema Nr. 1 gewesen sein. Auch hier Fehlanzeige: „Bei der Abendgesellschaft fiel kein Wort über die politische Lage.“ An den folgenden Tagen beschäftigt sich der Autor, der in seinem bis 1972 währenden Leben neben Stadtmitte noch mehr als 20 Bücher vorgelegt hat, mit den Schriften Achim von Arnims und Rudolf Borchardts, woran er den Leser teilhaben läßt. So informiert er kommentarlos und ohne Zusammenhang von Arnims Empfehlung an seine Frau Bettina, sich nicht um die Kinder zu kümmern, wenn sie schreien, denn das sei ihr Vaterunser, mit dem sie für ihre Eltern beten.

Der nächste Weg führt den Autor in ein Konfektionsgeschäft. Dabei philosophiert er darüber, was es heißt, einen Anzug zu kaufen, nämlich „sich unter Anzüge zu begeben, von denen jeder auf seinen Käufer, seinen Träger wartet“. Und er teilt auch der staunenden Leserschaft mit, warum das so ist: „Wir sind und bleiben Anzug- und Kleiderträger.“ Und das, obwohl der Mensch eigentlich Mensch ist ohne diese Anzug- und Kleiderhülle. Wer hätte das gedacht!

Um sein Outfit weiter zu verbessern, läßt sich Ihlenfeld die Haare schneiden. Da holt ihn die Wirklichkeit der seit ein paar Wochen mauergeteilten Stadt ein. Denn draußen donnern USA-Panzer vorüber, geleitet und gefolgt von Polizeiwagen. Wohin die Panzer rollen, welchen Auftrag sie haben, wie lange sie im Einsatz bleiben - nichts erfährt der Leser aus diesem Buch. Wichtig ist dem Autor dagegen die Feststellung, daß es sich bei den Panzerfahrern um „Negersoldaten“ mit „schwarzwollenen Köpfen“ handelt. Damit der militärisch unbedarfte Leser nicht etwa annimmt, die „Negersoldaten“ hätten vielleicht einen Knoten ins Kanonenrohr geknüpft, vermerkt Ihlenfeld ernsthaft: „Die Geschütze steif, doch leise schwankend in Fahrtrichtung gestellt.“ Glücklicherweise fühlte er sich angesichts der Kampfmaschinen nicht bedroht, denn diese Panzer und diese „Negersoldaten“ sind „unsere Beschirmer“ - konkret gegen welche Bedrohung in jenem Herbst 1961, läßt er offen. Er vermerkt nur, „West-Berlin ist eine offene Stadt, auch wenn sie von einer Mauer umzirkt wird“.

Vom Panzerkettenrasseln an die Mauer erinnert, entscheidet er sich, von der Mauer weiterhin keinerlei Notiz zu nehmen. Er sieht sich „bei heiter-kühlem Wetter“ Gemälde und Zeichnungen von Lesser Ury an, spaziert durch den Grunewald, besucht die Kunstausstellung „Der Sturm“, besichtigt altpreußische Baudenkmäler im Schloßpark Charlottenburg, feiert das 300jährige Bestehen der Staatsbibliothek, wandert „bei schönem warmen Wetter“ nach Gut Düppel, meditiert über „150 Jahre Franz Liszt. Fünf (sic!) Jahre Ungarn.“ Er fährt mit dem Taxi nach Tegel, von dort mit dem Dampfer nach Spandau, schlägt nach bei Gottfried Keller und konstatiert dann zufrieden: „Die ,Landnahme‘ nach dem Urlaub ist abgeschlossen.“

Und der Gang zur Mauer? „Ein leises Zögern ließ es bisher nicht dazu kommen.“ Was es mit diesem Zögern auf sich hat, wie er es schließlich am 30. Oktober 1961 überwindet, vertraut Kurt Ihlenfeld seinem Tagebuch nicht an.

Beim Rezensenten kam jedenfalls bei soviel Ungereimtheiten, Unbefriedigendem, Uninteressantem, Unwesentlichem, Unkorrektem (neben unzweifelhaft vielem Geistvollen, Essentiellen, Bedeutungsvollen) ein starkes Zögern auf, das Buch bis zum Ende zu lesen. Er hat sein Zögern aber überwunden, weil er erstens auf Besserung hoffte und weil er zweitens mit der Rezension des ganzen Bandes beauftragt war. So hat er sich ferner geärgert über das Fehlen eines Registers und jeglicher Anmerkungen. Zudem bieten die Kapitelüberschriften, nur aus der weitgehend bedeutungslosen Zeitangabe von Monat und Jahr bestehend, kaum Orientierungshilfen zum Lesen. Der Rezensent ist auf eine Reihe sachlicher Fehler gestoßen, die selbst 33 Jahre nach der Erstveröffentlichung nicht mal mit einer Fußnote korrigiert wurden. Damit hat Christa Ortleb, die diese Neuausgabe besorgte, ihrem Vater keinen guten Dienst erwiesen.

Mit den Unzulänglichkeiten beim Umgang mit Fakten ist nicht nur der damals in einigen Kreisen übliche Sprachgebrauch gemeint, Zone und Mitteldeutschland statt DDR und Ostdeutschland zu sagen. Auch nicht nur die Marotte, als „Machthaber in Pankow“ nicht den dortigen Bürgermeister und den SED-Kreissekretär zu meinen, sondern die DDR-Regierung und das Zentralkomitee der SED in Berlin-Mitte. So sieht Ihlenfeld immer nur Polizisten und Volkspolizisten auf Wacht an der DDR-Grenze, läßt das 1950/51 abgetragene Berliner Stadtschloß noch ein paar Jahre weiter stehen und verlegt das Columbiahaus vom Columbiadamm zum Potsdamer Platz. Er hält es für unmöglich, daß der Westen von seinem Reichtum etwas dem armen Osten abgeben konnte, und glaubt, daß der Deutschlandbesuch eines USA-Präsidenten als Anlaß diente, „die Mauer um einen 500 Meter breiten ,Todesstreifen‘“ zu ergänzen. Ihlenfeld, zehn Jahre lang von Goebbels geduldeter Schriftleiter eines Verlages und Herausgeber einer Kulturzeitschrift, setzt Gleichheitszeichen zwischen Ulbricht und Hitler und behauptet: „Der NS-Staat konnte ebensowenig Gegenstand von Literatur werden wie heute der DDR-Staat. Er konnte nur angegriffen oder mit Schweigen bedacht werden.“

Nach der Lektüre von Stadtmitte möchte man frei nach der Bibel für den 1972 verstorbenen Theologen bitten: Herr, vergib ihm, denn er wußte nicht, was er tat.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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