Eine Annotation von Horst Wagner


Diers, Michaela:

Hildegard von Bingen

Deutscher Taschenbuchverlag, München 1998, 158 S.

Ein sehr heutig dargestellter Mensch im Zentrum des an eine Art Erdkugel erinnernden „Weltenrades“. Das Ganze umschlossen von den Armen einer roten Gestalt, welche die „feurige, von Leben sprühende Liebe“ symbolisieren soll, und gekrönt von einer allegorischen Darstellung Gottes: Der Kosmosmensch, wie ihn sich die Äbtissin, Theologin, Philosophin und Musikerin Hildegard von Bingen (1098-1179) vorstellte. Die Miniatur aus dem „Liber divinorum operum“ gehört zu den 61 Illustrationen, die das Büchlein aus der bewährten „dtv-portrait“-Serie zu einem ebenso lesens- wie anschauenswerten Werk machen. Michaela Diers, Germanistin und Historikerin, ist es nicht nur gelungen, aus den verhältnismäßig wenigen gesicherten Informationen über die Zeitgenossin Kaiser Barbarossas ein überzeugendes Lebensbild zu formen. Sie gibt uns auch interessante, zuweilen verblüffende Einblicke in Geistesleben und Kunst des hohen Mittelalters. Sie will uns zeigen, daß „die Äbtissin aus der mittelalterlichen Übergangsepoche ... der Gegenwart, die sichtlich ebenfalls eine Epoche des Übergangs ist, in der Tat viel zu sagen“ hat. (S.67)

Dabei setzt sie sich mit Tendenzen auseinander, in Hildegard von Bingen nur eine Wunderheilerin zu sehen und ihre Schriften als Quelle moderner Esoterik zu nutzen. Demgegenüber betont sie das humanistische Erkenntnisstreben der Äbtissin. „Mitten im Weltenbau steht der Mensch, denn er ist bedeutender als alle übrigen Geschöpfe ... Was er mit seinem Werk in rechter und linker Hand bewirkt, das durchdringt das All“, zitiert sie aus der Beschreibung des „Kosmosmenschen“ (S.73). Hildegard habe im Menschen nicht nur ein Geschöpf Gottes, sondern auch ein Wesen gesehen, das selbst „schöpferisch am Werke“, zugleich aber in ein „universelles Ordnungsgefüge“ eingebunden ist. Sie habe stets die Einheit von Leib und Seele betont und ein für ihre Zeit und Stellung unverkrampftes Verhältnis zur Sexualität gehabt. Bemerkenswert sei ferner, daß sie die Aussage des Paulus, daß die Frau für den Mann geschaffen worden sei, für ergänzungswürdig hielt und betonte, daß auch der Mann um der Frau willen erschaffen sei. Ein besonderes Kapitel ist den Predigt-Reisen Hildegards gewidmet. Sie war die erste Frau überhaupt, die öffentlich das Wort Gottes kündete und dabei - sozusagen Luther vorwegnehmend - scharfe Kritik am Klerus übte. Zahlreiche in den Haupttext eingefügte Marginalien, eine Zeittafel, ein Glossar und eine ausführliche Bibliographie erhöhen wesentlich den Informationswert dieses mit 14,80 DM sehr preiswerten Taschenbuches.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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