Wiedergelesen von Reiner Hold


Wolfgang Kienast: Das Ende einer Weihnachtsfeier

Kriminalroman.

Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1981, 192 S.

Kein Buch ohne Dramaturgie, schon gar nicht ein Kriminalroman. In keiner literarischen Gattung liegen die Spielregeln und Erwartungen so fest wie in der Kriminalliteratur. Dennoch - zahllos sind die Versuche, Gesetze des Genres und tradierte Strukturen zu unterlaufen, auch um die Grenzen zwischen sogenannter U- und E-Literatur fließender zu gestalten, nicht immer zum Vergnügen des Lesers. Ein guter Krimi hat bekanntlich zwei Bedingungen: ideelle Substanz und Unterhaltsamkeit. Doch gerade der Unterhaltungswert scheint die Anerkennung des Krimis als ernsthaften Beitrag zur Gegenwartsliteratur in Frage zu stellen.

Das hat Wolfgang Kienast, der sich zu DDR-Zeiten mit anspruchsvoll erzählten sozialkritischen Krimis einen Namen gemacht hat, wiederholt zur Gratwanderung zwischen Kriminal- und Gegenwartsroman und damit zu einer über den „Fall“ hinausgehenden Ausweitung des Geschehens auf allgemeingesellschaftliche Bereiche herausgefordert.

Unterhaltung und Information, Spannung und gesellschaftlich-soziale bzw. politische Aufklärung in einem Krimi zu verküpfen, das jedoch ist ein Anspruch, dessen erzählerische Umsetzung nicht selten zu Lasten genrespezifischer Wirkung geht.

Kienast ist dieses Risiko trotz Kritikerschelte immer aufs neue eingegangen. Er hat Suspense-Verluste in Kauf genommen und bei der Beschreibung von Realität mitunter die Kunstwelt vernachlässigt zugunsten der Welt des Reports, aber dennoch viel Anerkennung von seinen Lesern erfahren, die seine Geschichten insbesondere wegen der kritischen Betrachtung des DDR-Alltags und einer sozial und psychologisch genauen Figurengestaltung schätzten.

Die gesellschaftliche Relevanz des Stoffes war wohl auch der entscheidene Erzählanlaß für Das Ende einer Weihnachtsfeier, nach Gillermanns Tod Kienasts zweiter Kriminalroman. Das geschilderte Verbrechen ist zwar fiktiv, hat aber einen Wahrscheinlichkeitsanspruch, der durch adäquate Delikte in der Wirklichkeit belegt war. Daß Kienast mit seiner Feder einmal mehr in die wunden Stellen der DDR-Gesellschaft stach, wurde von der Obrigkeit wenige Monate nach Erscheinen des Romans mit einem Verbot des Buches bestraft. Dabei wirkte und wirkt die Geschichte, derentwegen der Autor seinerzeit in Ungnade fiel, damals wie heute auf den ersten Blick eher unspektakulär. Die Sumpfblüten des Bösen gediehen im Sozialismus bekanntlich nicht gar so üppig wie im Kapitalismus. Immerhin geht es in dem Krimi dennoch um Mord, aber nicht die Aufdeckung des Verbrechens, die Entlarvung des Täters, sondern die Verantwortung des Staatsanwalts gegenüber „seinem Fall“ steht im Mittelpunkt dieses Romans.

Günter Berg, Brigadier und Bestarbeiter einer Großbaustelle, dringt gewaltsam in eine Weihnachtsfeier ein und ersticht Augenblicke später seine Frau.

Die Kriminalpolizei glaubt an eine Eifersuchtstat im Affekt. Der junge Staatsanwalt Kuusihaara hingegen wittert vorsätzlichen Mord und stößt bei seinen Recherchen auf der Baustelle des Brigadiers auf Schiebung, Schrott und Korruption und auf ziemlich desillusionierte Meinungen über den real existierenden Sozialismus: „Das Ergebnis zählt, nicht, ob man eine Schar Engel hätschelt. Suchen Sie hier mal einen uneigennützigen, perfekten Sozialisten, vielleicht finden Sie dieses Jahr noch einen. Den zeigen Sie mir dann, ich möchte so was auch mal sehen. Die Menschen arbeiten immer noch, um zu leben, nicht umgekehrt.“

Das Ende einer Weinachtsfeier erzählt von den hartnäckigen Ermittlungen des jungen Staatsanwalts mit dem seltsamen Namen Kuusihaara, der sich nicht mit der Akte zufriedengeben will, die ihm die MUK auf den Tisch legt, und deshalb mit seinem Vorgesetzten und dem verantwortlichen Kriminalisten über Kreuz gerät. Kuusihaara nämlich hat Zweifel an der Allseitigkeit und Gründlichkeit der polizeilichen Recherchen. Mord oder Totschlag im Affekt - das ist für ihn die Frage, die er eindeutig geklärt sehen will, denn davon hängt nicht bloß das Strafmaß, sondern das weitere Leben eines Menschen ab. Das Bewußtsein dieser Verantwortung, seine professionelle Verpflichtung zur Objektivität, die ihm schwer genug fällt, zwingen den Staatsanwalt - und koste es auch seine Karriere -, dem Warum des Verbrechens auf den Grund zu gehen.

Der Kriminalfall entwickelt sich nicht Hals über Kopf, sondern läßt sich Zeit voranzukommen - ganz allmählich baut sich Spannung auf und verlagert sich mehr und mehr vom Mord an Bergs Frau über die umwegreichen Recherchen des Staatsanwalts auf unterschiedliche private und gesellschaftliche Bereiche. Nicht die Aufklärung des Verbrechens ist das Interessante, sondern die einzelnen Geschichten, die sich mit den Menschen verknüpfen, welche mit diesem Fall aus privaten oder dienstlichen Gründen zu tun haben und einfühlsam, differenziert und glaubwürdig alltägliches Leben spiegeln. Der Autor kennt sich aus in den Lebensrealitäten, hat ein sicheres Gespür dafür, wo Gefühle wahr und wo sie verschoben sind, und formt aus genau beobachteter Denk- und Sprechweise soziale Porträts.

Eine Kriminalgeschichte mit einem Staatsanwalt als Protagonisten war zwar keine neue literarische Kreation, aber eine im DDR-Krimi kaum genutzte Variante, die es Kienast gestattete, auf das übliche Dreieckschema Opfer-Täter-Ermittlung zu verzichten und statt dessen eine Untersuchungsebene ins Blickfeld zu rücken, die im Krimi meist nur in einer Nebenrolle in Erscheinung tritt, dabei oft einseitig als Instrument einer doktrinären Institution. Ein Klischee, das Kienast vorsätzlich nicht bediente. Er manövriert seinen Protagonisten in eine Konfliktsituation, in der er sich nicht nur als Hüter von Recht und Gesetzlichkeit bewähren muß, sondern sich auch als Mensch profilieren kann. Kuusihaara ist nicht edel, hilfreich und gut, kein Ritter ohne Fehl und Tadel, der einen Heiligenschein verdiente, was ohnehin seiner Weltanschauung widersprochen hätte. Kienast schuf diese Figur vielmehr nach dem Prinzip: Wenn du einen guten Menschen gestalten willst, beschreibe auch, wo er seine Schwächen hat; und er tat dies mit Gewinn an Ausstrahlung und Glaubwürdigkeit für seinen Protagonisten.

Die Generalstaatsanwaltschaft der DDR aber rezipierte diese Figur und das ganze Buch grundsätzlich anders als die übrige Leserschaft und nahm übel: daß es dem Krimi an überzeugend dargestellten positiven Vertretern der DDR-Gesellschaft mangele, eine kriminelle Gesellschaft als in der DDR existierend dargestellt würde, es keinen Bereich gäbe, der nicht „angeknockt“ sei, daß der Autor sogar so weit gegangen sei, Vertreter der Staatsanwaltschaft am Spekulantentum partizipieren zu lassen (gemeint war der Protagonist, der wie die meisten DDR-Bürger auch nur durch Beziehungen an sogenannte „Bückware“ gelangt) usw. usf.

Als ganz und gar indiskutabel aber wurde die nur wenige Zeilen umfassende Darstellung des Strafvollzugs apostrophiert: „... es gab zwei Zäune um diese Anwesen und spanische Reiter obendrauf, zwischen den Zäunen liefen Hunde. Nachts kläfften sie endlos, starke Leuchten strahlten in die Fenster. Morgens wurden die Strafgefangenen in Bussen hinausgebracht. Polizisten vorne und hinten, natürlich auch Hunde. Draußen durften sie hacken und schaufeln und Mist wegschleppen. Den Fraß gab es aus Thermophoren in einem Drahtgatter, in dem auch die Klos standen. Die Türen der Klos waren oben und unten offen, man konnte die Köpfe sehen, wie sie wippten, und ihre Beine mit den herabgelassenen Hosen.“

Zugegeben - nach der Beschreibung eines Sanatoriums klingt das nicht, aber auch längst nicht nach einem Vorhof zur Hölle. Die „Genossen“ sahen das anders. Kienast hätte ein Bild entworfen, das an KZs erinnert und den DDR-Stafvollzug verleumderisch als menschenunwürdig denunziere, was die UNO auf den Plan rufen könne.

Die Aufgeregtheit der Obrigkeit wegen dieses Buches war schon zu DDR-Zeiten nur schwer zu verstehen und ist aus heutiger Sicht kaum noch nachzuvollziehen. Jedenfalls offenbarte eine solch unangemessene Reaktion mangelndes Selbstbewußtsein und das tiefe Mißtrauen eines Staates, der sich seiner Sache und seiner Bürger nicht sicher war.

Erst 1987 erhielt eine retuschierte Fassung des Romans eine Neuauflage in der DIE-Reihe. Eine weitere Auflage erlebte Das Ende einer Weinachtfeier 1990 im Rotbuch Verlag - leider zu genau jener Zeit, als die Leser hüben wie drüben kaum mehr Interesse für die sozialistische Vergangenheit des „wilden Ostens“ und seine Literatur aufbrachten.

Der nach der Wende pauschal als bieder abqualifizierte ostdeutsche Krimi ist zweifellos besser als sein Ruf. Das Ende einer Weinachtsfeier ist ein Beweis dafür, auch wenn darin weder besonders raffiniert gemordet noch genial ermittelt wird und die Gesetzeshüter nicht annähernd so unwiderstehlich rüde wie Schimanski sind. Diese Defizite werden jedoch durch eine kritische, unprätentiöse, stellenweise ironisch-sarkastische und nicht zuletzt kenntnisreiche Darstellung von Alltagsrealität ausgeglichen, die inzwischen Geschichte ist.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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