Eine Rezension von Helmut Hirsch


Verschiedene Arten von Ironie

Martin Walser: Selbstbewußtsein und Ironie

Frankfurter Vorlesungen.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1996, 215 S.

Martin Walser hat nicht nur ein paar große, umfangreiche Romane wie Das Einhorn, Halbzeit oder Die Verteidigung der Kindheit geschrieben, er hat in den sechziger Jahren mit den Stücken Eiche und Angora, Die Zimmerschlacht, Überlebensgroß Herr Krott und mit Der Schwarze Schwan den Streitgesprächen in der alten Bundesrepublik markante Lichter aufgesetzt. Fast jedes Jahr hat er ein mittleres oder an Umfang auch kleineres Buch, einen Roman oder eine Erzählung veröffentlicht, spitzzüngige Essays geschrieben und zu Beginn der neuen deutschen Zeitrechnung unverstellt und unverhohlen den Wandel, den Um- und Zusammenbruch, den Aufbruch in diesem vielfach zerstückelten, wieder zusammengenähten tränen- und geldreichen, aber auch an Arbeit arm gewordenen Land kritisch begrüßt. Martin Walser ist ein bizarrer, wortreicher, ein bissiger und anspielungsreicher, ein besessener Erzähler. In seiner Prosa gibt es viele sogenannte „Stellen“, die den wenig hervorgehobenen Aphoristiker, den prägnanten Wortverkürzer, den aufsässig-energischen Zeitgenossen verraten. Blättere ich geschwind durch einige seiner Bücher, dann fallen mir sofort wieder Sätze auf, die ich vor Jahren mit Bleistift angestrichen habe. Ich gebe rang- und zwanglos hier ein paar Proben: „Schade, daß es einem Schriftsteller in einer Demokratie verübelt werden kann, seine Bürgerpflicht lediglich mit dem Stimmzettel zu erfüllen.“ (1968) „Das Bewußtsein braucht Gesellschaft oder es wird krank.“ (1967) „Alles was passiert, gehört dazu.“ (1967) „Der Intellekt müßte als ein verschlafener Wiederkäuer organisiert sein. Sobald man über ein Buch oder über ein Gedicht eine Meinung hat, ist das Buch oder das Gedicht aller weiteren Wirkungsmöglichkeiten beraubt.“ (1960)

Verschmitzte Sätze. Nicht zu erschüttern, voller Selbstbewußtsein, immer schon mit der Anlage zur Ironie. In den Romanen Walsers ist viel von dem, was Ironie, leise oder etwas kräftigere Durchmischung verschiedener Ansichten, Brüche und Gegensätze innerhalb von Figuren betrifft, auf allen Erzählebenen enthalten. Martin Walser hat zu allen bundesrepublikanischen Zeiten seiner langen, fleißigen, erfolgreichen und umstrittenen Schriftstellerlaufbahn sich selbst und seine Stellung zur Welt in einem gebrochenen, kritischen, und das heißt auch in einem ironischen Verhältnis gesehen. Er hat neben seiner erzählenden Prosa die essayistische Prosa immer ernst genommen.

Günter Grass, Heinrich Böll, Christa Wolf, Franz Fühmann übrigens auch. Der Essay macht manches deutlicher, als es der Roman vermag. Martin Walser, gelegentlich zu Gastvorlesungen an deutsche oder amerikanische Universitäten eingeladen, sprach 1973 an der University of Texas in Austin zum erstenmal vor Studenten über Ironie. Im Oktober und November 1980 gab es dann fünf Vorlesungen und ebenso viele Seminare in Frankfurt am Main. Damit setzte Walser die Tradition der Autoren fort, die als „Frankfurter Vorlesungen“ inzwischen Berühmt- und Beliebtheit bei Hörern und Lesern bekamen.

Diese Ausgabe versammelt Walsers fünf Vorlesungen von 1980, „wird aber gelegentlich auch ausführlicher, als die Vorlesungen sein konnten“ (Walser).

„Romantische Ironie in Wirklichkeit“ heißt der erste Text. Er versucht, die Wurzeln des Problems in der Romantik abzutasten. Friedrich Schlegel, mehr Theoretiker als Poet, gilt gemeinhin und auch für Martin Walser als der „Stifter der romantischen Ironie“. Entwickelt hat Schlegel seine Ideen überraschenderweise an Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre, ein noch nicht der Romantik zuzurechnendes Buch. Walser zitiert Schlegel, der meinte, daß Goethe seinen „Helden fast nie ohne Ironie“ erwähnte, trotzdem sei es Goethe mit seiner Figur stets „der heiligste Ernst“ gewesen. Da weiß der neugierige Leser noch lange nichts über romantische oder moderne Ironie. Doch Walser, selbst ein Ironiker von hohen Graden, setzt hier schon einmal etwas in den Text, wonach zu arbeiten, zu forschen und zu beweisen Aufgabe seiner Vorlesungen sein wird. Walser schreibt: „Und Goethe verwendet ja Ironie wirklich nicht, um zu desillusionieren, um die Form des Einzelwerks aufzulösen und dieses dadurch der absoluten Kunst selbst zuzutreiben.“

Während Walser also schon verrät, was ein Grundelement moderner Ironie ist, verweist er wiederum auf Schlegel, der meinte, bezogen auf Goethes „Wanderjahre“, hier sei Ironie, „die über dem ganzen Werke schwebt“. Jenes „schwebt“ ist sehr willkommen, um alle Winde, alle Nuancen, alle Philosophen der Zeit, vor allem Fichte und Hegel, mit ins Visier der grundfrischen Deutungsarbeit zu nehmen. Das ist spannend, anschaulich, witzig-würzig, wie so oft bei Walser, und somit kann der Leser, der gern auf kapriziöse Fährtensuche zu gehen bereit ist, sich mit Vergnügen Martin Walser anschließen.

Er wird zwischen seinem fließend vorgetragenen Text immer wieder mal eines seiner frappierend markanten Sätzchen hinsetzen, so daß der Leser nicht recht weiß, ist es das schon, oder führt hier der Vortragende nur eine Zielmarke in stiller Ahnung vor. Beispiel: „Es muß sehr verschiedene Arten von Ironie geben.“ Ahnen und wissen, der fleißige Leser weiß, da kommen nur Kafka, Beckett, Robert Walser, ganz besonders aber Thomas Mann in Frage. Dazwischen, sehr dazugehörend zum Umfeld: Fichte und Hegel, wenn es ums Klassische und um das Romantische überhaupt geht. Aber auch Kierkegaard und Jean Paul gelten ihm als Gewährsmänner beim Aufspüren der vielen Arten von Ironie.

Nicht zuletzt von der „sokratischen Muse“ holt sich Walser Auskunft und Anregung. Und was versteht er unter „sokratischer Muse?“: „Innen über alles erhaben, außen naiv wie eine italienische Operncharge.“ Wir bleiben im Walser-Takt. Wird alles verkürzt auf einzelne Stellen, spricht Schlegel von „rhetorischer Ironie“, dazu Walser: „Einer sagt eine gewisse Partie so wie er es nicht meint; meistens sagt er etwas Lobendes und wir, zur Urbanität gehörend, wir urban Eingeweihten wissen, er meint es tadelnd.“ Sokratisch oder bürgerlich: Ironie, der Erzähler Walser erzählt hier leicht ironisch von seiner Erzählpraxis, wenn er vermutet, daß diese Ironie nicht nur in literarischen Werken, sondern auch in Personen vorkomme.

Es kann hier nicht das ganze Geflecht, der Aufstieg auf die Hügel der Ironie, die Wege zurück ins Tal, die Rast unterwegs referiert werden. Der Rezensent leuchtet mit seiner Laterne hinein, entdeckt, zeigt, empfiehlt. Schlegel, das wird durch Martin Walser einleuchtend deutlich, ist auch ein Mann, dessen Texte man wieder mal lesen sollte, nicht nur der Ironie wegen. Er hat ja auch herrliche „Fragmente“ hinterlassen. Daran arbeitet der Leser und Deuter Walser, zitiert die besten Sachen: „Ironie ist die Form des Paradoxen. Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist.“

Nur gute Butter. Walsers Umgang mit Fichte und Hegel gehört zu den spannendsten Teilen seiner Poetik-Vorlesung. Immer Ironie, immer Blick auf die eigene, auch auf die Prosa der Nachbarn und Freunde. Schlegel beute hektisch Fichtes Errungenschaften aus, und was beweist er damit? Nach Walser: „Wie fällig dieses Mittel im politisch entwicklungslosen Deutschland war.“

Das „Negationsinstrument Ironie“ ist wie ein Seismograph, Martin Walser setzt ihn behutsam und steigernd ein bis hin zu polemisch-komischen Arabesken, Unmutsattacken auch gegen Thomas Mann und dessen „Sammeltassen-Monstren“. Mit Thomas Mann läßt sich gut sagen, Ironie „ist immer Ironie nach beiden Seiten hin, ein Weder-Noch und sowohl-Als-auch“.

Die feinen Bestimmungen, auf die Walser sich schließlich einläßt, sind simpel und provokant, keck und überraschend, sie verwirren den Leser und geben ihm freie Möglichkeiten im Umgang mit seinen Autoren. Also: „Thomas Mann ist zwar als Verfasser ironischer Meisterwerke, als der Ironie-Meister in der Literaturgeschichte unseres Jahrhunderts verzeichnet. Ich glaube aber, er hat kein ironisches Werk geschaffen. Er hat aber die Figur des Ironikers geschaffen. Die kommt in vielen seiner ansonsten humoristisch, symbolistisch und realistisch tendierenden Romane vor.“

Simpel klingt das, weil es wissenschaftsnah ist, phantastisch, wahr und keck ist es aber, weil Walser dabei auf seine eigenen Romane blickt. Denn der Witz, das helle, lichternde Vergnügen dieser Vorlesungen besteht auch darin, daß Walser nie mit einem einzigen Wort auch nur den direkten Blick auf eines seiner Werke wirft, obwohl er sie doch ständig im Hinterkopf hat. Denn er schreibt über die Erfahrung eines Erzählers mit Ironie. „Selbstbewußtsein und Ironie“ heißt die letzte und fünfte Vorlesung, und das Ganze ist ein Meisterstück in ironischer Verstellung.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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