Eine Rezension von Helmut Hirsch


Die Hölle sah auch manchmal anders aus

Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen

Aus dem Ungarischen von Christina Viragh.

Rowohlt. Berlin Verlag, Berlin 1996, 287 S.

Die Fabel dieses spannenden, dennoch eindringlich-leise erzählten Romans ist gar nicht so überraschend: Ein Fünfzehnjähriger wird in Ungarn während der Fahrt zu seiner Arbeitsstätte aus dem Bus geholt und nach Auschwitz deportiert. Mit dem aufgenähten gelben Stern war er nicht zu übersehen, von denen, die Juden jagten, verschleppten, töteten. Doch der Junge hat Glück im Unglück. Die Selektion auf der Rampe von Birkenau übersteht er. Später wird er nach Buchenwald gebracht, von dort in das Nebenlager Zeitz überstellt. Er „darf“ arbeiten, unter Bedingungen, die viele ausmergeln und bald dahinrafften. Den jungen Ungarn zwingt zu seinem „Glück“ eine schwere Erkrankung lange Zeit aufs Krankenlager. Als das Lager im Frühjahr 1945 von den Amerikanern befreit wird, verläßt er das Lagerbett und schlägt sich, unter Aufbietung aller Kräfte, nach Budapest durch. Danach „vergißt“ er alles, was er in den letzten Jahren erlebt hat, beginnt ein neues Leben.

Die Figur in diesem Roman ist aber nicht erfunden. Imre Kertész selbst war es, dem das alles widerfuhr. Aber es ist keine gewöhnliche Geschichte aus dem KZ-Alltag. Der „Schicksallose“ ist ein Gezeichneter, ein Ausgegrenzter, aber er nimmt dies alles so wahr, als sei es selbstverständlich und undurchdringlich, als liege diese Welt wie ein schwebend-traumartiger Panzer auf seiner Brust. Er findet keine Erklärung für das, was mit ihm, was ihm geschieht. „Ich weiß nicht warum?“ fragt er immer wieder, wenn er geschubst, gedemütigt, verachtet wird. Mehr noch: Er erlebt den KZ-Alltag, das Arbeitslager in Deutschland ganz naiv. Ist es Lähmung, ist es Unverstand, was den Erzähler dazu bewegt, alles nur dem Augenschein nach zu bewerten, nur dem aufmerksamen Blick zu folgen? Kertész hat sich dafür entschieden, die Ereignisse so darzustellen, wie sie ihm selbst vorkamen. Als bewege sich der Junge selbst wie in einem Film, sieht er die Angehörigen der Waffen-SS und bewundert deren Handlungen. Deren „festes“ Auftreten ist ganz anders als das Durcheinander, der heillose Tumult an der Rampe während der Selektion. Das alles nur Anzuschauen verändert die Situation, nimmt der Grausamkeit den Stachel, täuscht aber zugleich über den tiefen Abgrund, an dem der Erzähler wandelt, hinweg. Er gibt aus allen „Bildern, Stimmen und Begebenheiten“ von Birkenau nur seinen Eindruck, und das ist der Eindruck eines „seltsamen, bunten, verrückten Wirbels“. Blind ist er nicht, denn wachen Sinnes nimmt er ja die Vorgänge um sich herum alle wahr.

Er stellt Vermutungen an, ohne zu bewerten. Auch begreift er nicht, daß auf der Rampe Schicksale entschieden werden, Familien auseinandergerissen, willkürliche Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden. Manchmal scheint es, als bewege er sich wie unter Wasser. Er sieht Stacheldraht, erblickt Sträflinge „und hätte gern ihre Vergehen gekannt“. Daß er den Häftlingen im Grunde gleichgestellt ist, scheint er nicht einmal zu ahnen. Er spürt nur, daß er in ein sinnloses Stück hineingeraten ist, in dem er, alptraumhaft verwischt, seine Rolle nicht kennt. Heimgekehrt, erzählt der Junge in Budapest seine Erlebnisse aus dieser Sicht. Und erntet pures Unverständnis. Eine Welt bricht auseinander, aber nachträglich. Kein Wunder, daß die Veröffentlichung des Romans lange verhindert worden ist. Dieser scheinbar so naive Blick entsprach nach dem Krieg nicht dem Bild von den Konzentrationslagern, es paßte in seiner seltsamen Leichtigkeit nicht zum Wahnsinn des Holocaust.

So ist es auch verständlich, daß die Gattungsbezeichnung Roman bereits im Titel erscheint. Das Erlebnis des Autors war wie ein Roman. Es war der ganz eigene Blick auf schauerliche Szenen, die wie ferne Bilder nur betrachtet worden waren. Gerade diese unreflektierte, auch unkritische Wiedergabe macht aber die Lektüre dieses Romans so eindringlich. Der Leser wird in Erstaunen versetzt, allein die sparsamen sprachlichen Mittel sind es, die den Schrecken im Gedächtnis des Lesers wachzurufen vermögen. Kertész und sein Held, sein erlebendes-erinnerndes Ich sagt alles, obwohl vieles verschwiegen wird, weil es nicht begriffen wurde. Doch es steckt dahinter eine Doppelerfahrung. Die Ahnung, daß Leben und Leiden identisch sein können und in der Erfahrung des Schmerzes auch die Wahrheit erfahren wird. Hier liest sich das mitunter so überraschend, daß es Mühe bereitet nachzuvollziehen, wie einer, der im Unglück verharren muß, bereits so etwas wie Glück ahnt. Aber das ist die Poesie der Welt, zu der auch die Hölle gehört. Und wer einmal deren Bezirke streifte, kann glaubwürdig erzählen, daß es selbst in der Hölle manchmal ganz anders zugeht. „Es gibt keine Absurdität“, schreibt Kertész zum Schluß seines Romans und jetzt ganz unmittelbar an den Leser gewandt, „die man nicht ganz natürlich leben würde, und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert wie eine unvermeidliche Falle das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war.“

Wer derartig abgrundtiefe Blicke ins Dunkel des Lebens geworfen hat, darf das sagen. Gerade weil er es sagt, bereichert er das Bild dieser Welt.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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