Eine Rezension von Eberhard Fromm


Zeugen des Jahrhunderts

Hans Jonas: Erkenntnis und Verantwortung
Lamuv Verlag, Göttingen 1991, 151 S.

Yehudi Menuhin: Wunderkind und Weltgewissen
Lamuv Verlag, Göttingen 1994, 112 S.

Günter de Bruyn: Was ich noch schreiben will
Lamuv Verlag, Göttingen 1995, 107 S.

(Herausgeber der Reihe Ingo Hermann)

Die hier versammelten „Zeugen des Jahrhunderts“ aus der von Ingo Hermann betreuten gleichnamigen Fernsehreihe gehören verschiedenen Generationen an: Der eine blickt auf zwei Weltkriege zurück, der zweite ist ein Kriegskind des Ersten Weltkrieges, der dritte wurde in der Mitte der Weimarer Republik geboren. Und auch die Welten, aus denen sie stammen, sind gegensätzlich wie unser Jahrhundert. Um so erstaunlicher sind manche Aussagen in ihrer inhaltlichen Annäherung.

Der Philosoph Hans Jonas (1903-1993) schrieb 1992 in einem Brief an den Berliner Luisenstädtischen Bildungsverein, der ihn um seine Meinung zur Toleranz in unserer Zeit gebeten hatte, daß er zu diesem Thema kaum mehr zu sagen habe, „als daß sie der Fürsprache so wert wie sie ihrer bedürftig ist, und die Bedürftigkeit ist groß, da Toleranz dem Menschen alles andere als natürlich ist“.

Das könnte ein Stück jener Maxime und Reflexionen sein, mit denen er im vorliegenden Gespräch aufwartet. Man brauchte sie nur aneinanderzureihen, um einen tiefen Einblick in das Leben und Denken dieses namhaften Philosophen unseres Jahrhunderts zu erhalten. Er selbst übrigens sah in Martin Heidegger d a s Ereignis der deutschen und europäischen Philosophie des 20. Jahrhunderts.

1903 in Mönchengladbach als Sohn eines Textilfabrikanten geboren, wurde Jonas früh ein Anhänger des Zionismus und wollte als Lehrer nach Palästina gehen. Nach dem Studium in Freiburg, Berlin und Marburg bei berühmten Lehrern wie Edmund Husserl und Ernst Troeltsch, Eduard Spranger und Alois Riehl, Rudolf Bultmann und Martin Heidegger wählte er die wissenschaftliche Laufbahn, emigrierte 1933 nach Palästina und wurde 1939 Soldat der britischen Jüdischen Brigade, mit der er bis nach Deutschland kam. Nach Kriegsende kehrte er nach Palästina zurück, siedelte 1949 nach Kanada über und lehrte schließlich von 1955 bis zu seiner Emeritierung 1976 in den USA.

Jonas verlor seine Mutter in Auschwitz und konnte lange Zeit nach 1945 keine seiner Arbeiten in Deutschland erscheinen lassen. Besonders kompliziert gestaltete sich auch seine Beziehung zu seinem früheren wichtigsten akademischen Lehrer Heidegger, nicht nur wegen dessen persönlichem Verhalten in der NS-Zeit: „Ein Philosoph durfte nicht hereinfallen auf die Nazisache. Er durfte nicht. Und daß bei dem größten Philosophen der Zeit das versagt hat, daß die menschenerhöhende Wirkung eines Lebens im Dienste der Wahrheit ausgeblieben war, ... das empfand ich über alle persönliche Enttäuschung hinweg als ein Debakel der Philosophie selber.“ (S. 68)

Bei den Betrachtungen zum 20. Jahrhundert wird immer wieder auf die Ambivalenz hingewiesen, es wird von der Schmach und der Größe dieses Jahrhunderts gesprochen. Generell bekennt sich der Philosoph Jonas jedoch zu einer „Skepsis gegenüber der weiten Verbreitung von Weisheit und Einsicht“. (S. 117)

In seinem 1979 erschienenen Buch Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation werden die kritischen Positionen zu Fortschritt, Hoffnung - der Buchtitel bezieht sich auf die umfängliche Arbeit „Das Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch- und Utopie ebenso sichtbar wie die ethischen Konsequenzen, die er fordert. Bis heute gehört diese Arbeit zu den bedeutenden Werken unserer Zeit. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1987, die Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt Mönchengladbach und viele andere internationale Ehrungen belegen die Hochachtung gegenüber diesem Denker des 20. Jahrhunderts.

Das 1988 von Hans Bünte geführte Gespräch mit dem Musiker Yehudi Menuhin repräsentiert bereits eine neue Generation der im Lamuv Verlag erscheinenden Reihe zu den Jahrhundertzeugen: Die Texte sind durch Bilder - meist Porträts - ergänzt, die dem Leser die Persönlichkeit des Gesprächspartners auf intensivere Art als allein durch den Text näherbringen.

Menuhin wurde 1916 in New York als Sohn russischer Juden geboren, von seinen Eltern unterrichtet und frühzeitig mit der Musik vertraut. 1921 hatte er seinen ersten öffentlichen Auftritt. Er entwickelte sich zu einem hervorragenden Geiger, der bereits 1935 seine erste Welttournee unternahm. Sein Leben, das ihn durch viele Länder der Erde führte, betrachtet Menuhin unter dem Aspekt von „Nomaden-Dasein und Verwurzeltsein“. Heute lebt er als britischer Staatsbürger in London und wurde sogar in den Adelsstand erhoben. Neben dem Geiger steht nunmehr gleichberechtigt der Dirigent und der Musikpädagoge. In seinem Musikverständnis bewegte ihn stets eine Frage, „ob ich dirigiere, interpretiere oder lehre: Was steht hinter den Noten?“ (S. 26)

Die Weltsicht dieses großen Künstlers drückt sich immer wieder in Ansichten über den Menschen aus, der seine Hoffnungen nicht verlieren dürfe, der aber auch nicht glauben dürfe, daß er alle Probleme lösen könne. Menuhins Definition des Menschen lautet: „Der Mensch ist Wahnsinn.“ (S. 52) Daß dies aber keine pessimistische Lebenshaltung bedeutet, wird einem klar, wenn man die Lebensmaxime Menuhins liest: „Mein Leben lang suche ich und bin neugierig auf alles.“ (S. 81)

Zeitzeugen des Jahrhunderts aus dem Osten Deutschlands bilden in der Reihe noch eine kleine Minderheit. Zu ihnen zählt der Schriftsteller Günter de Bruyn, mit dem Ingo Hermann 1993 in Berlin sprach. Der am 1. 11. 1926 in Berlin geborene de Bruyn begann nach dem Zweiten Weltkrieg als Neulehrer zu arbeiten, besuchte von 1949 bis 1952 die Berliner Fachschule für Bibliothekswesen und war anschließend als Bibliothekar tätig. Seit 1961 wirkte er als freiberuflicher Schriftsteller. Seinen ersten Roman Der Hohlweg (1963), der recht erfolgreich war, unterzog er selbst 1974 einer scharfen Kritik und hat weitere Auflagen untersagt. Die Biographie Das Leben des Jean Paul Richter (1975) signalisiert sein Interesse an diesem Schriftsteller, wobei neben Jean Paul vor allem Theodor Fontane entscheidenden Einfluß auf sein Schaffen genommen hat. Außerdem ist nach eigener Angabe die Periode der Aufklärung immer ein Lieblingsgebiet für ihn gewesen. Für sein schriftstellerisches Werk wurde de Bruyn vielfach ausgezeichnet, so mit dem Heinrich-Mann-Preis, dem Lion-Feuchtwanger-Preis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Heinrich-Böll-Preis und dem Großen Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Schönen Künste.

Es ist nur natürlich, daß viele Fragen auf die Erfahrungen mit der DDR-Vergangenheit zielen und mit dem Umbruch am Ende der 80er Jahre. Dieser Zusammenbruch, so de Bruyn, habe ihn zwar überrascht und gefreut, aber als Wende in seinem Leben habe er ihn nicht empfunden. In Sachen des Protestes gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann sieht er etwas Historisch-Bedeutsames, da hier erstmals in der DDR nicht nur einzelne Personen, sondern eine Gruppe geschlossen gegen Regierungsbeschlüsse auftrat: „Der Biermann-Protest bedeutete im Verhältnis der Intelligenz zur Partei eine Wende. Zum ersten Mal war ein Konflikt öffentlich gemacht worden.“ (S. 59) Interessant erscheint auch die Überlegung, daß in der DDR manches Deutsche, ob gut oder schlecht, besser aufbewahrt worden sei als in der Bundesrepublik. Als sein Credo bekennt sich Günter de Bruyn zu der Entdeckerfunktion der Literatur: „Sie kann im Menschen und in seiner Umwelt Züge entdecken helfen, die der Allgemeinheit verborgen bleiben.“ (S. 90)


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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