Eine Rezension von Ursula Reinhold


Erzähltes Leben

Manfred Flügge: Zu spät für Amerika

Roman.

Aufbau-Verlag, Berlin 1998, 240 S.

Der Autor erzählt am autobiographischen Stoff von der Sozialisation und Lebensform eines Intellektuellen. Er führt seinen Protagonisten, Stefan Niemegk, inmitten einer beunruhigenden Sinn- und Lebenskrise ein, die zum Anlaß für eine Rückschau in die Kindheit wird. Alleingelassen durch seine in Amerika recherchierende Freundin und konfrontiert mit Besuch aus vergangenen Zeiten, ergreift die Unsicherheit über das eigene Herkommen Besitz von dem Mann, dessen Profession es ist, anderer Leute Lebensläufe nachzuspüren und für den Rundfunk verwertbar zu machen. Plötzlich ist er der eigenen Identität höchst unsicher, sieht sich von Unruhe umgetrieben und zweifelt am Sinn seines Tuns. Der Autor steht mit seinem Roman in der Reihe literarischer Bemühungen, die die Sinn- und Lebenskrise von freischwebenden Intellektuellen zum Thema machen, um der Problematik ihrer Existenz auf die Spur zu kommen. Allerdings nähert er sich dieser Frage weniger von deren gesellschaftlicher Stellung und Funktion her, sondern vielmehr von der individuellen Existenz dessen, der nach eigener Identität sucht. Die Lebenskrise, durch die Trennung von einer geliebten Frau ausgelöst, ist Anlaß für den Rückblick auf eine Kindheit der fünfziger Jahre im Ruhrgebiet. Die Rückschau bringt viel konkrete Erfahrung hervor, Erinnerung an Gelebtes und Geträumtes, sie versinnbildlicht das Kolorit der kleinen familiären Welt, läßt Farben und Gerüche stadtnaher Industrielandschaft anschaulich werden. Feindschaften und Freundschaften, die sehr verschiedenen Lebensläufe der frühen Gefährten, Erwartungen und Ängste, Streiche und ein von Prüderie und Verschweigen geprägtes Familienklima werden plastisch.

Für den ostdeutschen Leser dürfte vor allem das Erzählen über die Bedingungen einer Sozialisation im Ruhrgebiet von Intereresse sein, die für die Nachkriegsgeneration charakteristische Kindheitsmuster erkennen läßt. Mit seinem Herkommen von einer aus Ostpreußen vertriebenen Familie ist diese Generation noch immer in die Wirren der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte verwickelt, über die sich die Erwachsenen allerdings ausschweigen. Langsam faßt die Familie Fuß im Ruhrgebiet, der Vater, Berufssoldat, arbeitet nun als Bergmann. Gymnasiumbesuch und Studium des Sohnes werden den schweren Verhältnissen abgetrotzt, unter denen die Familie im Schatten des Wirtschaftswunders lebt. Beim Verfassen seines ersten Lebenslaufs, mit dem er sich als Austauschschüler nach Amerika bewirbt, stößt der Protagonist auf einen dunklen Fleck in seiner Herkunft: Sein Vater kann sein Vater nicht sein, denn er war zur entsprechenden Zeit in Kriegsgefangenschaft. Der Kontrast zwischen dem entbehrungsreichen Familienklima und dem sozialen Umfeld von Gymnasium und Universität wird mehrfach als existentielles Grundproblem berührt, ohne daß den sozialen und geistigen Spannungen solcher Sozialisation nachgegangen würde. Das ist schade, weil hier mehr über Kindheitsmuster in einer bestimmten sozialen und historischen Prägung zu erfahren gewesen wäre.

Das Erzählen auf mehreren Zeitebenen verrät den theoretisch beschlagenen, in den technischen Möglichkeiten versierten Autor, der längere Zeit als Dozent für Romanistik an der Freien Universität tätig war. Der Autor verfolgt konsequent einen thematischen Faden, die Suche nach eigener Identität, die er als schwankend und ungewiß, stets vorläufig und anfechtbar darstellt. Auf Glücksmomente in der Liebe, auf Sehnsüchte nach Geborgenheit und Verwurzelung folgen Ernüchterung und Zurückgeworfensein auf die eigene ungewisse Existenz. Das Erzählen läßt deutlich werden, daß es eindeutige Antworten, endgültige Lösungen für die Antriebe des Menschen nicht geben kann. An die Stelle von abschließenden Antworten treten Geschichten, Lebensgeschichten, die ihre eigenen Verheißungen und Abbrüche in sich bergen. Natürlich gehört zu solcher Existenz ständiges Auf-Reisen-Sein: Norwegen, Paris, Rom, New York als die Stadt des Vergessens tauchen als Möglichkeiten auf und lassen die Vorstellung, einen Platz in Berlin gefunden zu haben, als vorübergehende Illusion erscheinen. Gegenüber den familiären Determinationen der frühen Kindheit sind Hotelzimmer und Wohnungen zufällige, austauschbare Zufluchten. Der Autor versteht es, die Existenz des freischwebenden, bindungsflüchtigen Mannes, der Biographien anderer Leute sammelt, erzählerisch anschaulich werden zu lassen, allerdings ohne daß sich mir beim Lesen existentielle Betroffenheit einstellte. Dem stand die für meinen Geschmack aufdringliche Reflexion entgegen, die aus der erzählten Spannung der gelebten Lebenspole allein die Ungewißheit als Dogma filtert.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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