Eine Rezension von Waldtraut Lewin


Ein Besessener jagt Monster

Andrew Vachss: Verrat

Roman.

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger.

Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1997, 339 S.

In atemberaubendem Tempo schickt Andrew Vachss seinen Outlaw-Helden Burke in den Ring, und jedes der Bücher wird ein Superseller. False Allegations, wie dies Buch im Amerikanischen heißt, erschien 1996 als vorläufig letzter Band in den Staaten, war flugs 1997 auf dem deutschen Buchmarkt. Weitere werden folgen, das dürfte sicher sein, denn Vachss ist, bevor er Krimischreiber ist, zunächst einmal Moralist, Kämpfer gegen ein Übel, Kreuzritter für eine Sache. Er muß sich äußern. Sein Gegenstand - literarisch und in der Realität - ist der Kindesmißbrauch, und nicht nur in der manischen Okkupiertheit von seinem Thema gleichen sich Autor und Romanfigur auf beängstigende Weise.

In einem der frühen Bücher (ich glaube, es war in Kata) gibt er, gleichsam im Anhang, in einem Interview Auskunft über sein Leben und seine Beweggründe. Vachss, Anwalt und Nebenkläger in vielen Kindesmißbrauch-Prozessen, Verfechter eines rigorosen Kinderschutzes, benutzt immer wieder seine Krimis zu Apellen und Aufrufen, wirbt für Institutionen wie Civitas und die K.I.D.S.-Kampagne von Terre des Hommes, läßt prominente militante Kinderpsychologen wie Bruce Perry „live“ in seinen Büchern mitspielen. Das verwaschene Foto, das ihn zeigt, könnte gut und gern das Wanted-Bild seines halbkriminellen Helden sein.

Es ist merkwürdig, daß trotz solchen Eifers, solcher persönlichen Involviertheit, solcher Deckungsgleichheit von geistigen Vater und literarischen Kind - alles Dinge, die der Kunst nicht unbedingt förderlich sein müssen - Burke eine der authentischsten und aufregendsten Gestalten des postmodernen hardboiled-Krimis ist.

Burke ist ein Besessener auf der Suche nach anderen Besessenen. Wie ein Amokläufer ist er hinter allem her, was nach Kindesmißbrauch und -prostitution aussieht, und in der Szene der New Yorker Unterwelt, in der er sich bewegt, ist das bekannt, haftet ihm an wie eine Schießscheibe: Hier ist er verletzlich. Sein wunder Punkt, seine Achillesferse, und immer von da kriegen sie ihn für Aufträge ein, die er sonst sicher abgelehnt hätte, treiben ihn aus der Absurdität seiner Existenz in noch absurdere Bereiche der Gefahr und des kaum zu Bewältigenden.

Burke, der alles macht, von Betrug und Waffenhandel bis zu Söldnerrekrutierung und Erpressung, ein erfinderischer Gauner, Trickbetrüger und Dieb (letzteres benutzt er nicht ohne Stolz als Berufsbezeichnung), lebt und überlebt außerhalb der Legalität. Jedes Mittel ist ihm recht. Außer, wenn es um „sein Thema“ geht.

Baby Boy Burke steht in seiner Geburtsurkunde; seine Mutter, die nichts von ihm wissen wollte, und der Scheißstaat haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Namen für ihn auszusuchen. Burke vegetiert, mißbraucht und aller Gewalt ausgesetzt, in Kinderheimen, schlägt irgendwann zurück, erhält seine Feuertaufe in Gefängnissen, ist stark genug geworden, nachdem ihn das alles nicht zerbrochen hat. Stark, aber nicht cool.

Denn eigentlich ist er nur stark, weil er nicht allein ist. Von allen Helden der „Harten Welle“ ist Burke im Grunde wohl die verletzlichste und sensibelste Figur, einer, der nicht aufhören kann, an der Bosheit der Welt zu leiden und gegen sie anzurennen. Sicher wäre er längst tot, bei aller Vorsicht (er lebt auf einer verlassenen Etage mit seiner Mastino-Hündin Pansy wie in einem Hochsicherheitstrakt und geht keinen Schritt, ohne ein umfangreiches Netz von Gefahren-Sensoren um sich herum aufzubauen). Aber ihn umgibt etwas, das er seine Familie nennt, und diese skurrile Ansammlung von Freunden und Helfern aus der Grauzone zwischen verrückt und normal fängt ihn auf und beschützt ihn, motiviert ihn, hilft ihm, gibt ihm moralischen Beistand. Da gibt es Max den Stillen, den mongolischen Krieger und Kampfsportler mit der Seele eines Kindes, der tödlich sein kann wie der Schwarze Wind; den Prof, einen winzigen schwarzen Schuhputzer und Lebenskünstler (Prof steht für Professor und Prophet); den Antisemiten hassenden, genialen „Maulwurf“ auf seinem Schrottplatz mit den Hunden; die schöne Transsexuelle Michelle und schließlich „Mama“, Besitzerin eines China-Restaurants, in dem jeder Gast nur Abscheuliches vorgesetzt bekommt und die Köche eigentlich Profi-Killer sind; rechnerisch genaue, rationale Geldwäscherin, Schieberin, Buchhalterin Burkes. Und sie alle, nebst der gewaltigen Hündin Pansy, in Treue fest um ihren Burke geschart, ihr „Kind“, das sie unterstützen, kritisieren, dem sie helfen.

Dies ganze Universum verquerer Typen, diese Allianz der Asozialen bildet das Rückgrat für Burke. Sie haben, innerhalb der mörderischen Grabenkämpfe der New Yorker Unterwelt und im Dschungel der Lower Eastside, gemeinsam eine Variante gefunden. Das macht sie stark, und so überleben sie. Und darin unterscheidet sich Burke von den anderen Hardboiled-Typen. Er ist kein Einzelgänger, kein einsamer Wolf auf dem Kriegspfad, sondern exponiertester (und geliebter) Vertreter eines kleinen gesellschaftlichen Universums, einer Oase am Rande der Hölle.

Die Welt, mit der Burke konfrontiert wird, die Realität New York, läßt an Brutalität, Kälte, Verzweiflung und tödlicher Gefahr alles bisher Gekannte hinter sich. Am ehesten gleicht sie noch den Höllenschluchten der Zukunftswelt von Marge Piercys Fantasy Story Er, Sie und Es. Sie wird von Vachss mit grimmiger Detailkenntnis und gnadenlosem Naturalismus beschrieben. Die Schuld für den Zustand der Welt sieht Vachss-Burke, fixiert in seiner Obsession, einzig und allein im Kindesmißbrauch. Hier liegt für ihn die Wurzel allen Übels, jeder menschlichen Deformation, jedes Verbrechens, jedes sozialen Defekts. Gewalt und fehlende Liebe produzieren Ungeheuer, lautet seine These. Hier beginnt sein Feldzug, hier ist dem Helden auch ein Mord recht und seinem Autor der Weg in die Predigt, in den Tendenzroman. Doch davon später.

Burke, der Verletzte und seelisch Einsame, nach außen Zynische, brennt vor Haß. Als seine Tugenden benennt er selbst Geduld und - Angst. Angst, die ihn wach und lebendig hält, die ihn motiviert, ihm zu Ideen verhilft. Burke ist - bis auf die Kontakte zu seiner „Familie“- beziehungsgestört, und es nimmt nicht wunder, daß alle seine Frauengeschichten nur Episoden sind. Meist legt er sein Mißtrauen nicht mal im Bett ab - mit gutem Grund, denn was da so in High Heels und mit langen rotlackierten Krallen auf ihn zugestöckelt kommt, ist eigentlich alles andere als eine zu beschützende Unschuld. Packt ihn wirklich mal ein echtes Gefühl, muß das Mädchen folgerichtig draufgehen (Bluebelle), und er sinkt in noch tiefere Einsamkeit zurück.

Die Krimis von Andrew Vachss sind, bis auf wenige Ausnahmen, Ich-Erzählungen Burkes. Sie zeichnen sich durch einen lakonischen, wie vom rasenden Rhythmus der Stadt New York bestimmten Sprachstil aus. Schrill, cool, atemlos, manchmal durch einen ruppigen Vergleich aufgepeppt („... als hätte jemand eine Kordel mit Glasscherben durch meine Wirbelsäule gezogen ...“).

Natürlich können bei einer so massenhaften Produktion nicht alle Titel des Autors das gleiche Niveau haben. Es gibt Gelungenes und weniger Gutes, und einmal - bezeichnenderweise -, als Vachss die Figur seines Helden aufgibt zu Gunsten eines Überhelden à la Batman (Das Geschäft des Bösen) unterläuft ihm ein völliger Flop in Gestalt eines Trivialschinkens der übelsten Art - ich nehme an, das ist ihm egal, wenn das Buch nur gelesen wird. Schließlich will er seine Message verkaufen. Da ist ihm auch ein milliardenschwerer Menschheitsbeglücker mit High-Tech und einem Butler („der treue Alfred“) recht.

Der neue Titel nun hat wieder alle Vorzüge der großen Vachss-Romane.

Burke, angemietet von einer jungen Frau, die sich an einem Mann rächen will, kommt sehr schnell dahinter, daß diese Person nur vorgeschoben ist. Seine Nachforschungen führen ihn schließlich zu einem Anwalt, den man in Kindesmißbrauchs-Prozessen meist auf der Gegenseite findet - als Verteidiger der Angeklagten. Nun will er den Prozeß seines Lebens führen und sucht die Dienste Burkes, des besten Ermittlers auf diesem Spezialgebiet, um die Wahrheit zu finden. Als Burke entdeckt, was dieser Anwalt eigentlich im Schilde führt, ist es schon zu spät. Er, seine Dienste sind mißbraucht worden. Und Mißbrauch nun wieder ist das, was er am allerwenigsten vertragen kann ... Tempo, Action, Charaktere - alles stimmt hier. Und mehr als sonst sorgt der Autor hier für ein mehrmaliges „Umkippen“ der Handlung, für wirklich überraschende Brüche, Sprünge und Umkehrungen, ohne die Wahrscheinlichkeit zu zerstören. Verrat zählt zu den gelungenen Burke-Geschichten, und vielleicht ist der eine oder andere motiviert, noch weitere Bücher von Vachss in die Hand zu nehmen, um mehr über das wunderliche Universum, die geheimen Welten dieser außergewöhnlichen Figur zu erfahren.

Allerdings sei gesagt: Es sind mörderische Geschichten, und Burke, obwohl er keine Waffe trägt, versteht zu töten. Am dichtesten ist man wohl am Herzen der Finsternis in Kult, einem Buch, bei dem einem die Haare zu Berge stehen über die Abgründe der menschlichen Natur. Willkommen im nächsten Jahrtausend mit Burke in New York.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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