Eine Rezension von Hans-Rainer John


Zwischen Kidnapping und Kannibalismus

Wolfgang Eckert: Sächsische Morde

Kriminalhistorischer Führer durch die Vergangenheit.

Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft, Berlin 1998, 208 S.

Dieses Buch will ein Mittelding zwischen Pitaval und Reiseführer sein oder beides, und zwar bezogen auf das schöne Sachsenland und seine Geschichte. Es will dem historisch Interessierten ein anschauliches Zeitbild sozialer Verhältnisse vermitteln. Solch hochgesteckten Anspruch kann es nicht einlösen, ja es bleibt auch im Detail ganz und gar unbefriedigend. Warum?

Referiert werden 22 Mordfälle auf sächsischem Territorium zwischen 1455 und 1948, darunter sieben, über die schon in anderen Publikationen zu lesen war (Leipziger Pitaval, Dresdner Pitaval, Der Mord an Karl Lämmermann) und drei historisch bekannte (der Mord an Wilhelm von Kügelgen 1907, der Fall Christian Woyzeck 1821 und der Prinzenraub des Kunz von Kauffungen 1455, dieser allerdings als Mord nur mit Not subsummierbar, nämlich nur insofern, als auch Kunzens ziemlich unbeteiligter Bruder Dietrich gleich mit hingerichtet, also ermordet wurde).

Die übrigen Fälle sind meist wenig aufregend, weil sie von den heutigen täglichen Polizeinachrichten weit in den Schatten gestellt werden. Was soll spannend oder erhellend sein, wenn die Herren Kelz und Schmidt 1852, beim Einbruch überrascht, die Witwe Heidrich erdrosseln? Oder wenn 1887 ein Christian Friedrich Schroth mit langem Vorstrafenregister ein Fuhrwerk mietet und unterwegs den Kutscher umbringt, um sich in Besitz der Pferde zu setzen? Da kann man nur die Geschwindigkeit der Polizei bewundern, die den Täter, damals noch ohne moderne Nachrichtenübermittlung, am folgenden Tag bereits ermittelte und stellte. Und auch der Mord an der Chemiestudentin Müller aus Leipzig, die 1930 unglücklicherweise Willy Leischker im Walde traf und die seine Sinne erregte, hat nichts, was außergewöhnlich wäre oder auch nur aus den besonderen historischen oder sozialen Umständen erklärbar wäre. Auch wenn die Wicklerin Frieda Lehmann (34) ihre Arbeitskollegin Käthe Stiehler (40) umbringt, um sich durch ein paar Lagen Bettwäsche zu bereichern, ist das 1946 aus der damaligen Notlage sicher begründbar, aber existiert Mord- und Totschlag um ein paar Mark willen nicht auch heute noch?

Nein, für die Auswahl wurde kein allzu hoher Maßstab angelegt. Auch daß bei einer Klassenjustiz betuchte Leute wie der Gutsbesitzer Lehmann, der 1898 den Erntearbeiter Hommel um seinen Lohn betrog und dann den Fordernden mit der Forke erschlug, sehr billig davonkommen, während arme Leute schon bei bloßem Tatverdacht (wie die Mühllene, 1637 unzutreffend als Hexe verschrien) oder bei einer Schelmerei (wie 1693 der Spaßmacher Anton Friebel) mit dem Leben büßen müssen, ist nicht neu. Auch daß über Ermittlungsbemühungen um so weniger, über Hinrichtungsmethoden um so mehr bekannt ist, je weiter die Mordfälle in die Vergangenheit zurückreichen, bestätigt sich bei dieser Publikation.

Nur weniges verdient wirklich, der Vergangenheit entrissen zu werden. Daß es bereits 1789 einen Callboy namens Heinrich Gottlob Jonas gab, der eine zahlungsunwillige Kundin, die offenbar mit seinen Diensten nicht zufrieden war, aus Wut erwürgte und erstach, ist immerhin interessant, und daß er über einen Blumenteppich seiner Anbeterinnen zum Schafott schritt und dem Scharfrichter einen Blumenstrauß überreichte, macht die Story mitteilungswürdig. Auch die Geschichte der Grete Beier, die 1907 mit Leidenschaft einem (unwürdigen) Geliebten anhing und sich von ihrem (betuchten) Verlobten deshalb mittels Zyankali und Revolverkugel zu befreien suchte, sticht ebenso hervor wie die Hinrichtung des 20jährigen HJ-Führers Karl Lämmermann durch seinesgleichen 1934 in der „Nacht der langen Messer“. Aber diese Stories wurden ja deshalb auch meist schon an anderem Ort erzählt und gedruckt ...

Jeder Mordfall beansprucht meistenteils vier Seiten - zu wenig wohl für ein handfestes Buch. Deshalb vielleicht der Versuch, jedem Mordfall einen Hinweis für den heutigen Touristen anzuhängen mit Vermerken über sehenswerte Gebäude, Hotels, Ausstellungen nebst Öffnungszeiten. Allerdings: Wer sucht schon in einem Pitaval nach solchen Diensten. Und nur selten ist der örtliche Zusammenhang zwingend. Wenn nach dem Prinzenraub auf Waschleithe, Kloster Grünhain, das Lehr- und Schaubergwerk, den Natur- und Wildpark und das Vier-Sterne-Hotel „Köhlerhütte Fürstenbrunn“ hingewiesen wird, mag das noch angehen. Aber nach der Geschichte vom schönen Jonas, die sich in Leipzig zutrug, wird das Klein-Paris als Bach-Stadt und Kabarett-Eldorado („Pfeffermühle“, „Academixer“) gepriesen: Wo ist da der Zusammenhang? Schroth, der Räuber, hatte einst das erbeutete Gespann von Chemnitz nach Zschopau kutschiert; weil Zschopau touristisch unergiebig ist, empfiehlt unser Autor nun das bei Ehrenfriedersdorf gelegene Wasserschloß Klaffenbach. Und weil über das Dorf Eulitz, wo einst der Saisonarbeiter Hommel totgeschlagen wurde, auch nicht viel zu berichten ist, werden Nossen und der Klosterpark Altzella vorgestellt. Nach der Geschichte von Minna D., die 1907 einen Leipziger Buchhändler umbrachte, weil er einem neuen Liebhaber im Wege war, werden die heutigen Museen der Messestadt aufgelistet.

Wo ist der Sinn? Selbst wenn Tatort und geschilderte Sehenswürdigkeit stärker übereinstimmen - welcher geistige Teilnehmer an der Welt des Verbrechens will sich auch wirklich selbst an den Ort der Handlung begeben?

Am stärksten aber trübt das Lesevergnügen die umständliche, gestelzte oder gewollt altmodische Ausdrucksweise des Autors, die ständig in Amtsdeutsch abrutscht, und der aufdringlich moralisierende Ton. Bis zur Hälfte des Buches scheint ein mildtätiger Lektor dem mangelnden Sprachgefühl des Autors aufgeholfen zu haben, dann hat er offenbar aufgesteckt. Da wird ein Testament „entrichtet“, Deutschland erscheint als „in vier Besatzungszonen zerkleinert“ (!), Woyzeck war „zum Schereführen“ kaum mehr fähig, Grete Beier ließ „heimliche Treffpunkte stattfinden“, „stellte“ bei ihrem Geliebten „ungetreues Verhalten fest“ und „lenkte sich durch den Besuch anderer Vergnügungen von ihrem Traurigsein ab“, und was schließlich die Bodenkammer des Kügelgen-Mörders angeht, so „führte die Polizei eine Untersuchung in derselben durch“. So läuft das fort und fort. Auf Dauer ist das schwer erträglich. Jeder Gymnasiallehrer würde ausrasten, legten ihm seine Zöglinge solche Formulierungen vor.

Die grafische Gestaltung des Buches (Jens Prokat) ist ansehnlich und zweckmäßig, sie entspricht der Serie (bisher: Märkische Morde; Das Gastmahl der Mörderin; Hexen, Räuber und Magister), nur berücksichtigt die beigegebene Sachsenkarte eben gerade die Tatorte nicht.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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