Eine Annotation von karl-Heinz Arnold


Marshall, William:

Last Exit Hongkong

Aus dem Englischen von Gunnar Kwisinski.

Rotbuch Verlag, Hamburg 1997, 289 S.

Der gebürtige Australier William Marshall, Jahrgang 1944, ist als Schriftsteller durch eine Reihe von Kriminalromanen ausgewiesen, fünf davon sind bei Rotbuch erschienen. Er lebt in den USA, war Journalist, Totengräber und Lehrer an wechselnden Schauplätzen: Hongkong, Philippinen, Schweiz, Irland. Eine bewegte Vita, deren mutmaßliche Fülle von Eindrücken wohl die Phantasie beflügeln und manchen Krimistoff enthalten kann.

Geschildert werden in diesem Buch mörderische Vorgänge in Hongkong, gut erfunden, lebendig und spannungsreich dargestellt. Mit seiner Vorschau auf die Zukunft dieser einzigartigen Stadt allerdings, die bestenfalls - bei wesentlichen Unterschieden - noch mit Singapur vergleichbar ist, hat Marshall sicherlich daneben getroffen. Das Erstrecht der englischen Ausgabe (wo sie erschienen ist, wird im Impressum nicht angegeben) datiert von 1994, und zu dieser Zeit hatte der Autor ein denkbar düsteres Bild vor Augen. In einem winzigen letzten Kapitel von etwas über einem Dutzend Zeilen schreibt er mit Blick auf das 1997er Ende des Kronkolonie-Vertrages:

„Bald würden die Kommunisten kommen. Langsam, Stück für Stück, würde Hongkong zu einer sterbenden Stadt, verblaßten die Lichter und der Frohsinn, wie ein Haus, das man seiner Einwohner beraubte ...“ Kommen würden „andere Lebensformen, die früher nicht zu sehen waren, andere Lebensformen, die das Tageslicht und den Lärm des Lebens, von Familie und Frohsinn mieden“. Mit dieser Prognose erweist Marshall, der immerhin ortskundig ist, sich keineswegs als politisch und ökonomisch kenntnisreich. Es gab und gibt keine begründeten Zweifel an der Einhaltung des Vertrages von 1984 zwischen China und Großbritannien, der dieser seit 1956 selbstverwalteten Stadt einen besonderen Status innerhalb Chinas zuerkennt, gewissermaßen kapitalistischen Bestandsschutz. Die Garantie hierfür ergibt sich nicht nur - und erst in zweiter Linie - aus dem völkerrechtlichen Grundsatz „Pacta sunt servanda“ (Verträge sind einzuhalten); sie ergibt sich auch und vor allem aus der überragenden Bedeutung Hongkongs als internationaler Handelsplatz, eine der großen Zentralen für Geld-, Aktien- und Warentermingeschäfte. Diese Stellung auch nur zu gefährden würde China riesige Verluste bringen. Hongkongs Position zu zerstören wäre ein unermeßlicher Schaden.

Nicht zu vergessen: Hongkongs Einwohner, rund 5,5 Millionen, sind zu 98 Prozent Chinesen, und zu ihrem Leben gehören Familie ebenso wie Frohsinn, ja eine oft umwerfende und sehr wohltuende Albernheit, Attribute, die weder in der Volksrepublik China noch unter kapitalistischen Verhältnissen verschwinden können, wie sich übrigens auch in den Chinatowns Nordamerikas und Australiens zeigt. Es käme niemand auf die Idee, diese Charakteristika chinesischen Zusammenlebens zu beschränken oder gar ausrotten zu wollen.

Der Autor hätte also besser auf seine pessimistischen Schlußbemerkungen verzichten sollen. Sie wirken aufgesetzt und scheinen, aus welchen Gründen auch immer, einem antikommunistischen Zeitgeist verpflichtet, der in dieser Form doch wohl anachronistisch geworden ist.

Der deutsche Titel des Buches (Originaltitel: Inches) suggeriert noch zusätzlich eine politisch determinierte Fluchtbewegung aus Hongkong, durchaus entgegen der Realität.

Ohne solch Beiwerk haben wir hier einen soliden Krimi. Er beginnt damit, daß in einer Bank neun vergiftete Angestellte gefunden werden, die gesamte Mannschaft des Kreditinstituts. Das Gift wurde offenbar in Sekt verabreicht, durchaus stillos in Tassen, die der spurlos verschwundene Mörder säuberlich abgewaschen hat. Der mit dem Fall befaßte Chefinspektor Harry Feifer, einer der wenigen agierenden Briten, steht vor einem hartnäckigen Rätsel, das sich erst am Ende der Geschichte überraschend auflöst. Dabei hätte die Polizei - ebenso wie der Leser - jederzeit über den Bösewicht stolpern können. Aber wer hätte denn gedacht, daß es zwar nicht der Gärtner, aber ausgerechnet dieser so gewissenhafte Mensch sein könnte!

Marshall hat einige Szenen eingefügt, die an Franz Kafka denken lassen, so die Daseins- und Gefühlswelt eines Polizisten, der als zerlumpter Penner verdeckt ermitteln soll, ohne den Grund hierfür zu kennen, und der verzweifelte Kampf eines anderen Polizisten, der sich auf dem Fenstersims eines Hochhauses gegen unablässig anfliegende Möwen verteidigen muß. Stets zeigt sich, daß der Autor mit der Sprache trefflich umzugehen weiß. Das gilt auch für den Übersetzer.


(c) Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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