Eine Rezension von Jan Eik


„... wir hatten auch eine Menge Spaß. Oder -?“

Klaus Schlesinger:
Von der Schwierigkeit, ein Westler zu werden
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1998, 208 S.

Jürgen Fuchs: Magdalena
MfS Memfisblues Stasi Die Firma VEB Horch & Gauck - ein Roman.
Rowohlt Verlag, Berlin 1998, 512 S.

 

Zu beiden Büchern, deren Thema - auf ganz unterschiedliche Weise ausgeführt - in Schlesingers Titel klar benannt ist, hat der Rezensent ein sehr persönliches Verhältnis. Bei Schlesinger entschloß ich mich so spontan zur Rezension, wie ich in den letzten Novembertagen 1989 in die Potsdamer Straße fuhr und die rubinrote Farbe am anonymen Klingelbrett der Wohngemeinschaften wählte, um dem Autor die schriftliche Wiederaufnahme in den Schriftstellerverband der DDR zu überbringen. Schlesinger, mit einem feinen Lächeln, bemerkte zuerst, daß die Mitteilung des Berliner Vorstandes nicht einmal unterzeichnet war.

Wir kannten uns damals seit über dreißig Jahren und hatten uns ein Jahrzehnt nicht mehr gesehen. Auch vorher begegneten wir uns nicht eben häufig. Ende der fünfziger Jahre hatten wir beide zum harten Kern der Interessengemeinschaft Jazz in der Berliner Gartenstraße gehört, die 1958/59 ein letztes Aufflackern im späteren Franzclub erlebte, bevor sie von der Stasi abgewürgt wurde. Einzelheiten dazu las ich 1996 in der Akte unseres gemeinsamen Freundes IM Zirkel, bei dessen Geburtstagen ich regelmäßig auch Klaus Schlesinger traf. An das letzte Gespräch mit ihm erinnere ich mich gut: Es fand am 7. Juni 1979 auf der Treppe des Roten Rathauses statt. „Nun haben sie dich aus dem Verein rausgeschmissen, bevor ich überhaupt drin bin“, sagte ich, und der Satz drückte etwas von der Erleichterung aus, die ich darüber empfand, als Kandidat des Schriftstellerverbandes an diesem Tribunal nicht als Stimmberechtigter teilgenommen zu haben.

Was folgte, ist bekannt: Schlesinger - wie die meisten anderen, die jene Petition unterzeichnet hatten - ging in den Westen und wurde dort nie ganz heimisch. Davon handelt sein Buch, eine Sammlung seiner Aufsätze, veröffentlicht zwischen 1992 und 1995, ergänzt durch Letzte Sätze von 1997 und einen fünfzigseitigen Brief nach Island aus dem gleichen Jahr.

Wie die Wahl zwischen Pest und Cholera sei ihm die Wahl zwischen DDR und BRD immer vorgekommen, schreibt Schlesinger auf der ersten Seite und benennt damit ein Dilemma, das nach 1989 größere Bevölkerungskreise in den neuen Ländern erfaßte. Vielleicht war es ja auch die Wahl zwischen der heimischen Schweinepest und BSE. Oder zwischen der luxuriösen und der gemütlichen Grube, wie Schlesinger meint.

An einiges, was er in der gemütlichen Grube erlebte, erinnere auch ich mich gerne: an die Jazzabende in der Fredersdorfer Straße und im „Alt-Bayern“ (wo sich heute das Handelszentrum erhebt), an unseren gemeinsamen Freund Stephan und an den Spaß, den wir alle miteinander hatten. Und anders als mit nachsichtigem Humor läßt sich heute die Aktion jener Ost-Dissidenten kaum bewerten, die West-Berliner APO unter den Argusaugen der Stasi mit Helmen und Regenumhängen auszurüsten. Habe ich damals nicht selbst die jeweils aktuellen Bände der Marx-Engels-Gesamtausgabe für Westberliner Freunde erworben?

Aus manchem, was Schlesinger ganz unumwunden zugibt, spricht Naivität. Aus Protest hat er nie den Palast der Republik betreten. Das nenne ich Haltung! Mir haben das Essen in den (staatlich subventionierten) Restaurants und der Jazz im Großen Saal geschmeckt, obwohl ich natürlich wußte, daß im gegenüberliegenden Marstall ein ganzes Bataillon von Sicherheitskräften nichts anderes tat, als diesen Palast, seine Mitarbeiter und seine Besucher zu bewachen und zu bespitzeln.

Ist es die Weisheit des Alters, die Schlesinger dazu veranlaßt, eher mit mildem Spott an die Untaten der Firma zurückzudenken, die ihm so manchen Tort angetan - bis hin zu dem ausgestreuten Verdacht, er gehöre selber dazu? Ich glaube eher, es ist eine Lebenshaltung, die dahintersteckt, der ungebrochene Optimismus, daß es immer auch noch etwas anderes gibt, über das zu reden und zu schreiben lohnt.

Nicht jeder wird aus Schlesingers Buch so viel über sich erfahren wie ich - eine zum Nachdenken anregende und erfrischende Lektüre ist es allemal. „Ich denke, wir hatten auch eine Menge Spaß. Oder -?“ Den hatten wir, lieber Klaus, und es ist gut, daß uns jemand auch daran erinnert.

Daß andere Autoren das Leben in der DDR weniger spaßhaft empfanden und in Erinnerung haben, beweist eine ganze Reihe von Büchern zur Stasi-Problematik. Es ist wohl einmalig in der Literatur, daß den Lesern aus den Werken der Dichter - seien es Biermann, Kunze, Loest oder andere - die blanke Poesie der Akten entgegenschlägt. Jürgen Fuchs hat früher als die meisten anderen Texte zu diesem seinem Trauma publiziert. 1977 aus der DDR ausgebürgert, kann auch er die Schwierigkeiten, ein Westler zu werden, sich mit den alten wie den neuen Verhältnissen abzufinden, bis heute nicht leugnen. In Magdalena hat er sich den Frust wohl endgültig von der Seele zu schreiben versucht. Der studierte und praktizierende Psychologe Fuchs wird am besten wissen, wie man eine solche Abrechnung nennt. Ein Roman ist es jedenfalls nicht. Aber auch keine bloße Dokumentation, wie der Verlag im Klappentext anmerkt, „sondern eine literarische, rigoros-subjektive Auseinandersetzung, nicht zuletzt mit der Gauck-Behörde und dem ,bürokratischen Ausbremsen einer Revolution‘“.

Ein Sachbuch also - oder doch Belletristik?

Ich gestehe, daß mich an dem Buch vor allem der Titel gereizt hat: Magdalena. Nach Fuchs ist das die Bezeichnung des alten Gerichtsgefängnisses in der Lichtenberger Magdalenenstraße (aus dem übrigens im März 1945 ein Häftling namens Erich Honecker entwich), das ab 1955 als Untersuchungshaftanstalt und Vernehmungszentrum des gegenüberliegenden Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) diente. Als ich das Gebäude, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft ich vierzehn Jahre meiner Kindheit und Jugend verbracht habe, im Mai 1990 zum erstenmal besichtigte, sprachen die Herren vom Strafvollzug von der „Magdalene“. Fuchs wird das aus eigener Erfahrung besser wissen; er hat 1976 fast ein Jahr in Stasihaft verbracht, die nachhaltige Spuren hinterließ. Auch davon handelt dieses Buch. Die heutige Justizvollzugsanstalt für Frauen, um einen modernen Trakt erweitert, erhielt übrigens einen neuen Eingang in der Parallelstraße und heißt seitdem „Alfred“.

Um das alte Gemäuer aus dem Jahre 1908, in dem nach 1945 das sowjetische Militärtribunal seine drakonischen Strafen aussprach und das manch prominenten Häftling von MWD (russische Abkürzung für das Ministerium für Innere Angelegenheiten der UdSSR) und MfS beherbergte, geht es Fuchs auch gar nicht. Magdalena ist ihm poetisches Synonym für die höchst prosaischen Vorgänge, in die er sich verwickelt sah und sieht. Denn Fuchs hat 1992 noch einmal ein (diesmal freiwilliges) Jahr bei Magdalena abgesessen: als Mitarbeiter bei der Gauck-Behörde nämlich, um Licht in die Finsternis der Aktenkonvolute zu bringen. Daß er dabei in neue Finsternisse geriet, verwundert den aufmerksamen Zeitgenossen nicht. Die Behörde verbannte den offensichtlich ebenso ungeliebten wie unbequemen Forscher in eine kleine Kammer in einem der beiden Altbauten, die auf der anderen Seite der Magdalenenstraße stehengeblieben sind, im 1. Stock der ehemaligen Nummer 13. Es kann sich nur um die einstige Mädchenkammer der Schwester meines besten Freundes handeln, aus deren Fenster Fuchs in die Reste des Hofes blickte, in dem wir unsere Nachmittage verbracht hatten. Denn - und das klammert Fuchs in seinem Bericht vollständig aus - hier haben einmal ganz „normale“ Menschen gelebt, bevor die Stasi sie vertrieb.

Und eben das ist der wichtigste Einwand, der sich mir bei der Lektüre von Magdalena aufdrängt: Gewöhnliche Menschen, das alltägliche Leben in der DDR, kommen darin nicht vor. Das Stasi-Trauma erlaubt es dem Autor nicht, anders als in der Täter/Opfer-Kategorie zu denken und zu schreiben und jeden, auf den er trifft, nach diesem Schema zu bewerten. Allenfalls gibt es noch solche, die die Täter nur begünstig(t)en. Nimmt es Fuchs wirklich jedem DDR-Bürger persönlich übel, ein Gläubiger oder ein Opportunist, jedenfalls kein Oppositioneller wie Fuchs und so wenige andere gewesen zu sein? Hat er vor und neben seinen Einsichten nicht selbst einmal ein ganz durchschnittliches Leben in diesem Land geführt, in dem er Oberschüler, Student, Parteimitglied war? Hat er wirklich niemals Spaß gehabt?

Mit diesem Einwand soll keineswegs die Schuld der (bei Fuchs als Auftraggeber des MfS kaum genannten) Partei und ihres martialischen Vollzugsorgans verkleinert oder verharmlost werden. Was von diesem angeblichen Untersuchungsorgan nicht nur getan (und Fuchs und seiner Familie - aber eben auch Leuten wie Schlesinger - angetan), sondern auch noch akribisch aufgeschrieben und hinterlassen worden ist, hat wahrlich Orwellsche Dimensionen. Pinochets Schergen in Chile hätten hier ihr Lehrbuch gefunden; in Äthiopien, Afghanistan und anderswo glänzte die DDR lange mit ihrem Exportschlager Sicherheitsberatung, von dessen Fachkräften inzwischen die deutsche Wirtschaft partizipiert. Im MfS ist alles, aber auch wirklich alles mit deutscher Gründlichkeit und umständlicher Bürokratie (und in deren unsäglicher Sprache) in Berichte, Vorschriften und Dogmen gekleidet worden. Und das zu einem Zeitpunkt, als die marxistisch-leninistische Staatstheorie längst zur verlogenen Worthülse erstarrt war und nicht einmal mehr den Begriff Arbeiterklasse definieren konnte, wollte oder durfte.

Fuchs zitiert eindrucksvolle Beispiele dieser Wort-Kunst aus den eigenen wie aus fremden Akten. Daß er dabei die Vorgänge um den Tod und um die zweimal unterdrückte Untersuchung des Todes von Matthias Domaschk sehr genau ins Visier nimmt, ist sein besonderes Verdienst und wohl auch der literarische Höhepunkt seines Buches.

Mit geballten Fäusten kann man nicht schreiben. Das weiß der Psychologe Fuchs. Am Ende aber steht er mit hilflos geöffneten Händen und ein wenig fassungslos, aber eben auch ohnmächtig, dem Aktengebirge gegenüber, das die neuen Herren mit Hilfe der alten und neuen Subalternen und mit komplizierten Vorschriften weitgehend vor der öffentlichen Nutzung schützen. Für Fuchs ist Joachim Gauck nicht der Großinquisitor, den mancher in ihm sieht. Fuchs wirft dem Rostocker Pastor weit eher protestantische Milde und Nachsicht und das Versinken in der in vierzig Jahren BRD zur Vollkommenheit entwickelten Bürokratie vor. Daß ein Mahnender wie Fuchs in einer solchen Behörde als im höchsten Maße störend empfunden wurde und mit nachträglicher Schelte bedacht wird, erstaunt nicht.

Es ist aber auch die Crux der Bürgerbewegten: Sie bewegen nichts mehr. Gar nichts. Und daran hat jeder einzelne von ihnen seinen Anteil. Über die diffusen Ziele besteht keine Einigkeit, sie bleiben in den Parteien, die sie nacheinander ausprobieren, Fremde, ohne die Basis, von der sie einmal kamen.

Und dennoch: Es ist keineswegs nur für den Autor wichtig, das alles aufgeschrieben zu haben. Die Leserbriefe in der Presse beweisen täglich, wie leicht in unserem Land vergessen wird. Aber wer außer den berufsmäßigen Rezensenten und Geschichtsaufarbeitern wird diese dickleibige Abrechnung mit zwei Gesellschaftssystemen lesen? Die wie Fuchs gleichermaßen ohnmächtig Betroffenen, die das (fast) alles schon wissen?


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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