Eine Rezension von Klaus Ziermann


Die glanzvolle Würdigung eines Klassikers

Marcel Reich-Ranicki:

Ungeheuer oben. Über Bertolt Brecht.

Aufbau-Verlag, Berlin 1996, 128 S.

„Einen Streit um Brecht gibt es heute nicht mehr: Bald vierzig Jahre nach seinem Tod braucht man ihn, der einst die Gemüter erhitzte, nicht mehr zu verteidigen. Denn niemand greift ihn an. Es wiederholt sich, was nach dem Tode eines großen Dichters geradezu die Regel ist.“ (S. 11) Die geistreiche, glanzvolle Würdigung eines „klassischen“ Dichters bestimmt die Diktion des kleinen Bändchens, das Marcel Reich-Ranicki als Auftakt zum 100.Geburtstag von Bertolt Brecht vorlegte, von der ersten Zeile an. Gewiß, von den fünf Beiträgen, die der Altmeister bundesdeutscher Literaturkritik zum Brecht-Jubiläum beigesteuert hat, ist lediglich einer - der Erlebnisbericht „Der Poet als Geschäftsmann. Brecht in Warschau“ - neu. Die übrigen vier Abhandlungen wurden bereits zwischen 1975 und 1995 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ publiziert: „Ungeheuer oben. Brecht und die Liebe“ am 6.1.1996, „Er und seine Kreatur. Brecht und Ruth Berlau“ am 14.12.1985; „Ein Genie und ein armer Hund. Brecht in seinen Briefen“ am 5.12.1981 und „Der Anfänger als Klassiker. Brecht und seine frühen Tagebücher“ am 2.8.1975. Zeichnungen und Lithographien von Harald Kretzschmar, Herbert Sandberg, Elisabeth Shaw und Andrzej Stopka geben dem Bändchen, das zum Besten und Lebendigsten über bb gehört, weiteres Gewicht.

Am ausgiebigsten wird das dichterische Werk des gebürtigen Augsburgers in Ungeheuer oben. Brecht und die Liebe gewürdigt - einem Vortrag, den Reich-Ranicki zum 50. Jubiläum des Aufbau-Verlages am 24. September 1995 im Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt hielt. Was darin nach meisterhaften Analysen von Brechts Werdegang, seinen Stücken und Dich tungen über dessen Stellenwert in der deutschen Literaturgeschichte geschrieben steht, kann sich sehen lassen. Überhaupt entsteht in allen fünf Beiträgen eine schillernde, geniale, von Widersprüchen des 20. Jahrhunderts gekennzeichnete Dichterpersönlichkeit, deren Platz im „Pantheon der deutschen Literatur“ - nach dem poetischen Wolken-Bild des berühmten bb-Gedichts „Erinnerungen an die Marie A.“ - „ungeheuer oben“ angesiedelt wird. Die literaturwissenschaftlichen Argumente, die Reich-Ranicki knapp, anschaulich und auf den Punkt gebracht ins Feld führt, sind nicht von der Hand zu weisen: „Wie kein anderer Dichter dieses Jahrhunderts hat er unser aller Sprache geprägt, geformt und bereichert“, steht da zu lesen. „Unsere Vorfahren pflegten bei jeder passenden Gelegenheit Schiller zu zitieren, den ,Wilhelm Tell‘ zumal - vom braven Mann, der an sich selbst zuletzt denke, bis hin zu jener Axt im Haus, die den Zimmermann erspare.

Doch Tell, der wackere Schütze, der am mächtigsten allein ist, wurde verdrängt von Mackie Messer, dem Banditen, dem man nichts beweisen kann. Die ,Dreigroschenoper‘ ist das meistzitierte Werk des zwanzigsten Jahrhunderts: ,Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral‘, ,Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm‘, ,Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so‘, ,Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug‘, ,Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht‘. Der ,Dreigroschenoper‘ entnehmen wir die Formulierungen ,Wach auf, du verrotteter Christ‘ oder ,Beneidenswert, wer frei davon‘. Und aus der ,Dreigroschenoper‘ stammen die so altmodisch klingenden und immer noch beliebten Fragen: ,Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?‘

Brecht zitieren wir, bewußt und unbewußt, beinahe täglich. Die Politiker und die Journalisten, die Geistlichen und die Juristen, wir alle wiederholen seine Worte von dem Zöllner, der bedankt sein sollte, weil er dem Weisen seine Weisheit abverlangt, von den Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume beinahe ein Verbrechen sei, von der bleichen Mutter Deutschland, die besudelt unter den Völkern sitze, von dem Schoß, aus dem das kroch und der fruchtbar noch, von dem Land, das unglücklich ist, weil es Helden nötig habe und - zumal früher in der DDR - von dem Einfachen, das schwer zu machen sei, von den Mühen der Gebirge, die hinter uns liegen, und von den Mühen der Ebenen vor uns...“ (S. 41-43). Das ist in der Tat Literaturkritik und Literaturanalyse, die nicht nur große Dichtkunst zum Gegenstand hat, sondern selbst das Niveau von Kunst erreicht.

Lediglich ein Bereich wird fürsorglich und - wie ich vermute - bewußt ausgeklammert: Brechts Verhältnis zur Politik seiner Zeit und seine des öfteren brisanten politischen Stellungnahmen, speziell über die deutsche Entwicklung nach 1945. Aber da ist das Vorgehen Marcel Reich-Ranickis aus heutiger Sicht durchaus zu verstehen: Vielleicht hätten einige dieser politischen Brecht-Aussagen auch im nachhinein noch wie Mißtöne bei dem großen Jubiläum am 10. Februar 1998 gewirkt?


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite