Eine Rezension von Eberhard Fromm


Zeugen des Jahrhunderts

Jean Améry: Der Grenzgänger
Lamuv Verlag, Göttingen 1992, 153 S.

Rudolf Arnheim: Zauber des Sehens
Lamuv Verlag, Göttingen 1993, 105 S.

Karlfried Graf Dürckheim: Der Weg ist das Ziel
Lamuv Verlag, Göttingen 1995, 127 S.
(Herausgeber der Reihe Ingo Hermann)

 

Je näher die Jahrhundert- und Jahrtausendwende rückt, je breiter und manchmal auch hektischer die verschiedenartigen Rückschauen agieren, um so deutlicher wird, wie verdienstvoll die seit 1978 laufende Fernsehreihe „Zeugen des Jahrhunderts“ mit ihrer Gestaltung und Auswahl ist - und wie wichtig es ist, daß man diese Sendung in der Schriftenreihe des Lamuv Verlages in Ruhe nachvollziehen kann.

Der Schriftsteller Jean Améry (1912-1978) bekannte sich in seinem Gespräch mit Ingo Hermann eindeutig zu der aufklärerischen Position, daß Denken und Wissen den Menschen befreien. In der Vorbemerkung „Ich fragte mich, ob das der Abschied sei ...“, ausgelöst durch den Freitod Amérys am 18. Oktober 1978 in Salzburg, wenige Wochen nach der Aufnahme des Gesprächs, kommt Hermann zu der Feststellung: „Der Weg in den Freitod führte geradeaus seit Auschwitz“ (S. 7) und umreißt damit das Schicksal des Jahrhundertzeugen Améry. In Wien geboren, emigrierte er 1938 nach Belgien, nahm dort aktiv am Widerstand teil, wurde 1943 verhaftet und kam bis 1945 ins Konzentrationslager. Seither lebte und wirkte er als freier Schriftsteller, veröffentlichte Arbeiten wie Jenseits von Schuld und Sühne (1966), Über das Altern (1968), Unmeisterliche Wanderjahre (1971) und Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod (1976). Für sein Schaffen erhielt er eine Reihe von Auszeichnungen, so den Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Künste (1972) und den Lessingpreis der Hansestadt Hamburg (1977). Für ihn ist das 20. Jahrhundert vor allem ein „Jahrhundert der Gewalt“, wobei er Gewalt recht eindeutig als physisch ausgeübte oder erlittene Gewalttätigkeit verstanden wissen will. Links versteht er dagegen als positiven Begriff, als „radikalen und unabdingbaren Humanismus“ (S. 44). Immer wieder kommt er auf die für ihn zentralen Werte zurück: Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Vernunft. Ausführlich erläutert er - vor der Kamera! - seine Ansichten vom „Terror der Aktualität“ der Medien und dem „Gegenterror des Ewigen“.

Der Kulturtheoretiker Rudolf Arnheim, am 15.7.1904 in Berlin geboren, sei in Deutschland ein Unbekannter, hebt Ingo Hermann, der das Gespräch 1987 in den USA führte, einführend hervor. Als Filmkritiker der „Weltbühne“ bis 1933 durchaus bekannt, verlor sich seine Spur in Deutschland mit seiner Emigration über Rom und London in die USA. Ebendeshalb sind seine Erfahrungen und Ansichten zu seiner Berliner Zeit von Interesse, signalisieren sie doch an der einzelnen Persönlichkeit den geistig-kulturellen Verlust, den Deutschland, vor allem aber auch Berlin, mit 1933 erlitten hat. An der Berliner Universität nahm Arnheim an der Entwicklung der Gestaltpsychologie teil. In der Arbeit für die „Weltbühne“ Ossietzkys, von dem er eine hohe Meinung hat - „der einzige Held“ (S. 31) -, war ihm das Schreiben das Wichtigste. Interessant ist seine Bewertung der Jahre der Weimarer Republik in Berlin: „Es war ein großes Chaos, ein schöpferisches Chaos. Die Republik ist sozusagen unvorbereitet über uns gekommen ... Alles war möglich, und deshalb wurde experimentiert.“ (S. 34)

Nach seiner Emigration konzentrierte sich Arnheim auf kulturtheoretische Probleme, wobei es ihm dabei meist um den allgemeinen, den philosophischen Zusammenhang geht („Ich bin auch der Meinung, daß, wenn man etwas taugt, dann endet man in der Philosophie ... Mein Grundinteresse ist eben das an der Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Welt ...“, S. 68). Von dieser Position aus befaßt er sich mit Picassos Bild „Guernica“, dem er ein ganzes Buch widmet - eben wegen dessen überragender Bedeutung für das 20. Jahrhundert. Intensiv untersucht er auch das Verhältnis von Sehen und Denken und kommt zu dem Schluß, daß Kunst nicht nur Gefühl, sondern immer auch „ein sehr hartes Denkereignis“ (S. 79) darstellt. Mit Nachdruck spricht sich Arnheim für eine überragende Rolle der Kunst aus: „Die Kunst zeigt das Wesen unserer Existenz.“ (S. 87)

Im Gespräch mit Karlfried Graf Dürckheim (1896-1988), das Karl Schnelting 1984 geführt hat, ging es vor allem um zwei Bereiche: um das Leben und die Lebenserfahrungen des Zeitzeugen Dürckheim einerseits, um die spirituellen Vorstellungen des studierten Psychologen andererseits.

Der Freiwillige des Ersten Weltkrieges und Gegner der Novemberrevolution 1918 begann seine wissenschaftliche Entwicklung in seiner Geburtsstadt München, wo er zuerst bei Max Weber Nationalökonomie und Philosophie, bald aber Psychologie studierte, was er dann in Kiel fortsetzte. 1923 erfolgte in Kiel die Promotion, 1930 die Habilitation in Leipzig. Dort arbeitete er unter Hans Freyer und Felix Krueger. Nach Professuren in Breslau und Kiel wurde er trotz jüdischer Herkunft bis 1937 im Büro Ribbentrop tätig und anschließend mit Studienaufträgen nach Japan geschickt. So hielt er sich zwischen 1934 und 1947 in verschiedenen Ländern auf, wie in Südafrika, in England und dann vor allem in Japan, wo er nach Kriegsende inhaftiert wurde und erst 1947 nach Deutschland zrückkehren konnte.

In Japan befaßte er sich ausführlich mit dem Zen, den er dann auch in Deutschland und darüber hinaus in Europa propagierte. Für ihn unterscheiden sich östliches und westliches Denken in einem entscheidenden Punkt: „Westliches Denken mündet in der Person, östliches Denken im All-Einen.“ (S. 52) Er polemisiert gegen den tüchtigen, weltangepaßten Menschen, der sich selbst im Wege stehe, weil er das Leben festhalten möchte. Dagegen setzt Dürckheim den Satz „Man muß sich finden lassen“. (S. 55) Erst wenn der Mensch die rationale Erkenntnisweise überschreite, sei er fähig, tiefere Dinge zu erkennen. Von dieser Position entwickelt er seine „initiatische Therapie“ als eine besondere Art des Zugangs zum Leben. Immer gehe es um die Beziehung zwischen dem tüchtigen „Welt-Ich“ und dem im Menschen anwesenden „überweltlichen Sein“, das Dürckheim „Wesen“ nennt. Momente, in denen der Mensch dieses Wesen erlebt, sind für ihn die „initiatischen Erfahrungen“.

Seit 1951 lebte Dürckheim in Todtmoos-Rütte, wo er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Maria Hippius eine „Existentialpsychologische Bildungs- und Begegnungsstätte“ entwickelte. Seine Ansichten hat er in vielen Arbeiten wie Hara, die Erdmitte des Menschen (1954), Zen und wir (1961), Vom doppelten Ursprung des Menschen (1976) oder Von der Erfahrung der Transzendenz (1984) vorgestellt. Der Mann, der den Sinn des Lebens darin sah, daß der Mensch sich selbst als Zeuge des Unendlichen erfährt, starb am 28.12.1988 in Todtmoos.


© Edition Luisenstadt, 1998
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