Eine Rezension von Gerhard Keiderling


Deutsche Einheit - die Geschichte einer Zitterpartie

Rafael Biermann:

Zwischen Kreml und Kanzleramt

Wie Moskau mit der Einheit rang.

Ferdinand Schöningh, Paderborn 1997, 800 S.

Unter den zahlreichen Büchern zur Geschichte der deutschen Einheit besticht dieser Titel auf den ersten Blick durch seinen Umfang. Dabei handelt es sich nur um „die gekürzte, aktualisierte Fassung“ einer Dissertation, die der Autor 1995 an der Universität Bonn eingereicht hatte. In dreijähriger Forschungsarbeit hatte Biermann, der 1990/91 als Mitarbeiter im Bundeskanzleramt die Geschichte machenden Vorgänge „hautnah“ miterlebte, in Bonn, Berlin, Moskau, London und Paris sein Material zusammengetragen und systematisiert. Der historisch-genetische Aufbau, wie ihn eine Dissertation verlangt, kommt dem Leser entgegen, wenn er sich durch das Gestrüpp der deutschlandpolitischen Ansichten, der innen- und außenpolitischen Kräftekonstellationen, der Beziehungsverhältnisse und der langwierigen Verhandlungsphasen von 1989/90 müht.

Biermann zeichnet anhand seiner Quellen die Wandlungen der sowjetischen Deutschlandpolitik in den letzten Jahren Gorbatschows minutiös nach, immer auf deren Implikationen und Interdependenzen mit den Ereignissen in beiden deutschen Staaten und in der NATO achtend. Nach einer Darlegung der Moskauer außenpolitischen Entscheidungsstrukturen und -träger (es werden sechs Entscheidungsebenen unterschiedlichen Gewichts herausgefiltert) untersucht Biermann den sich radikal vollzogenen Meinungswandel der sowjetischen Führung in der Deutschlandfrage. Auf fünf Veränderungen geht er ausführlich ein: auf Gorbatschows „neues Denken“, das die verkrusteten Strukturen sowjetischer Außen- und Sicherheitspolitik aufbrach; auf das dynamische Konzept der „Freiheit der Wahl“, das die Freiheitsrevolutionen in Osteuropa in Gang setzte; auf die Entstehung einer neuen Partnerschaft zwischen Moskau und Bonn; auf die Entfremdung zwischen Moskau und Ostberlin sowie auf eine neue Nachdenklichkeit in Moskau in bezug auf die deutsche Frage. Als Gorbatschow 1987 im Vieraugengespräch mit Weizsäcker im Kreml bezüglich des Schicksals der beiden deutschen Staaten einräumte, was in hundert Jahren sein würde, entscheide die Geschichte, konterte Honecker lauthals, die Mauer würde in hundert Jahren noch stehen.

In der Quintessenz wurde die sowjetische Deutschlandpolitik „zunehmend ambivalent“ (S.124). Interne Konflikte zwischen zwei Strömungen ließen sich nicht länger verheim-lichen: Den orthodoxen „Germanisten“ um Bondarenko, Falin, Kotschemassow und anderen, die aus ideologischen und machtpolitischen Gründen an der DDR festhalten wollten, standen die Reformer um Gorbatschow und Schewardnadse gegenüber, denen die deutsche Teilung „immer weniger moralisch vertretbar und politisch haltbar“ war (S. 776). Wie tief beide Flügel im Herbst 1989 ihre Fühler in die DDR ausgestreckt hatten, wie ihre Konzeptionen aussahen, auf wen sie ihre Hoffnungen setzten und welche Rolle KGB und Stasi dabei spielten, das sind noch offene Fragen, die sich bei der Lektüre des Buches aufdrängen. Immerhin handelte es sich um eine Kehrtwende um 180 Grad, die Gorbatschow zwischen Mauerfall im November 1989, als er noch auf eine Erneuerung des Sozialismus in der DDR setzte, und dem Kohl-Treffen im Februar 1990, als er sein Ja zur Wiedervereinigung gab, vollzog. Biermann listet eine Reihe von Motiven für Gorbatschows Einlenken in der deutschen Frage auf, auch um dessen persönliche Verdienste um die deutsche Einheit zu würdigen („Die Deutschen haben Grund zur Dankbarkeit“ - S. 783). Wenn es Gorbatschows Ziel gewesen sein sollte, durch eine „Flucht nach vorn“, durch eine Preis-gabe der DDR und anderer Ostblockstaaten die Reformierung der Weltmacht UdSSR zu ermöglichen, so hatte er am Ende alles verspielt. Ironie der Geschichte war es, daß die hart errungene Einheit der Deutschen den Untergang der Sowjetunion eher beschleunigte.

Im zweiten Teil seines Buches behandelt Biermann sehr detailliert die Vorbereitung, den Drei-Phasen-Verlauf und den Abschluß der „Zwei plus vier“-Verhandlungen zwischen Februar 1990 und März/April 1991. Dabei arbeitet er die Schwierigkeiten heraus, die den Fortgang der Verhandlungen wiederholt gefährdeten. Sie resultierten aus der Positionssuche Moskaus, das unter dem Druck der Entwicklungen in der DDR den Dingen ein um das andere Mal hinterherlief, ebenso wie aus der Junktimpolitik Gorbatschows, der sich einen sowjetischen Truppenabzug, die Aufgabe der Viermächterechte (besonders in bezug auf Berlin) und eine NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands so teuer wie möglich abkaufen lassen wollte. Bonn und Moskau feilschten um Milliarden, um sich schließlich auf 15 Milliarden DM zu einigen. (Zum Vergleich: Botschafter Kroll soll Ende 1961 Chruscht-schow für eine Preisgabe der DDR 10 Miliiarden DM geboten haben.) Jetzt erst war der „Zwei plus vier“-Vertrag unter Dach und Fach. Letzte Widerstände konservativer Gegner konnten in der Ratifizierungsdebatte im Obersten Sowjet bis März 1991 ausgeräumt werden. So gesehen glich der Einigungsprozeß streckenweise einer Zitterpartie.

Es ist ein Verdienst des Autors, sich die Last einer akribischen Analyse des schon vorliegenden Materials aufgebürdet und den deutschen Vereinigungsprozeß aus sowjetischer Perspektive interpretiert zu haben. In der Frage „Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang“ ist dennoch nicht das letzte Wort gesprochen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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