Eine Rezension von Werner Vogel


Blickpunkte - Standpunkte

Walter Schmidt (Hrsg.):

Demokratie, Liberalismus und Konterrevolution Studien zur deutschen Revolution von 1848/49

FIDES Verlags- und Veranstaltungsgesellschaft, Berlin 1998, 613 S.

Die hier vorgelegten Studien erwuchsen im wesentlichen aus Debatten einer 1992 initiierten „1848er Gesprächsrunde“ von ehemaligen DDR-Historikern, die sich vor allem mit Vormärz und 1848er Revolution befaßten und befassen.

Die kritische Bilanzierung eigener wie anderer Forschungen verband sich mit dem Bemühen, unter Überwindung einseitiger Sichtweisen geschichtliche Prozesse und Ereignisse um 1848/49 vorurteilsfrei, doch keinesweg standpunktlos, präziser und differenzierter zu beurteilen.

Die Beiträge des Bandes vermitteln hiervon in vielfältiger Weise einen Eindruck, sei es im Hinblick auf die Einschätzung der liberalen Verfassungspolitik im deutschen Nationalparlament von 1848 oder bei der Bestimmung des Wesens reformkonservativer Politik der preußischen Gegenrevolution nach dem Staatsstreich vom November 1848, sei es bei der Neubewertung des Willich-Schapperschen Bundes der Kommunisten als einer auf proletarische Emanzipation orientierten Organisation oder bei der Dokumentation des schwierigen, von politischen Restriktionen gehemmten Ringens des Revolutionshistorikers Karl Griewank um ein vertieftes, demokratische Elemente stärker als zuvor berücksichtigendes 1848er Revolutionsbild. In diesem Sinne wurden von den Autoren ihre früheren Arbeiten weitergeführt, doch mit neuen Forschungsansätzen und Fragestellungen.

Ein erster Themenkreis umfaßt zwei Beiträge zur Aktionsforschung. H. Bleiber gibt erstmals eine umfassende, weitgehend erschöpfende Darstellung der Erhebungen des Landvolks in ganz Schlesien in den ersten zwei Wochen nach dem Sieg der städtischen Märzrevolutionen und damit Auskunft über die Hauptträger und die Führerschaft in dieser revolutionären Bewegung sowie über deren Charakter und Merkmale. Ebenfalls zum erstenmal geht R. Hachtmann den Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen dem revolutionierten Berlin und seinen konservativen, von gegenrevolutionären Aktivitäten geprägten „Vororten“ Spandau und Charlottenburg nach, aus denen wiederum die Garnisonsstadt Potsdam mit einer starken demokratischen Vereinsbewegung und Militärprotesten deutlich herausfiel.

Einen zweiten Schwerpunkt bildet die 1848er Handwerker- und Arbeiterbewegung, insbesondere die Politik und das Wirken der von Marx und seinen Anhängern repräsentierten äußersten Linken der demokratischen Partei sowie der von den Revolutionserfahrungen geprägte Weg eines revolutionären Demokraten zu sozialistischen Positionen. Der bisher ungeachtet seiner bedeutenden Rolle in der demokratischen Vormärz- und 1848er Bewegung zwar häufig erwähnte, aber durchweg nur mehr beiläufig behandelte Berliner Handwerkerverein erfährt von K. Wernicke eine eingehende Darstellung in den beiden Revolutionsjahren und bis zur endgültigen Auflösung durch Gerichtsbeschluß 1851. Neben neuen Materialien zur Verbreitung der „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland“ von Ende März 1848 unterbreitet M. Hundt Überlegungen zur präziseren revolutionstheoretischen Verortung dieses Dokuments.

Ausgehend von dem bislang weitgehend unaufgeklärten Wechsel der Druckerei der „Neuen Rheinischen Zeitung“ gibt F. Melis mit der Biographie von zwei Kölner Druckereibesitzern zugleich einen Einblick ins rheinische Zeitungswesen der 1830er bis 1840er Jahre mit neuen Aspekten zur Geschichte der alten „Rheinischen Zeitung“ von 1842/43. Die biographische Studie von R. Dlubek über Johann Philipp Becker in den Jahren 1849 bis 1853 leuchtet nicht nur erstmals im Detail den komplizierten Prozeß seiner Hinwendung zu sozialistischen Auffassungen aus, sondern bringt mit der Untersuchung des Wirkens der Schweizer Gemeinden des Bundes der Kommunisten zugleich eine Neuordnung der Willich-Schapperschen Richtung in die Geschichte der proletarischen Emanzipationsbestrebungen nach der Revolution von 1848/49.

Ein drittes Thema gilt der zentralen Frage der Stellung des Liberalismus in der Revolution. Mit einer detaillierten Analyse der Frankfurter Verfassungsdebatten von der Jahreswende 1848/49 bis zum Beginn der Reichsverfassungskampagne sucht G. Hildebrandt die Chancen eigenständiger liberaler Politik einer friedlichen parlamentarischen Lösung der nationalen wie der Verfassungsfrage in ihrer historischen Bedingtheit zwischen revolutionärem Drängen und Druck „von unten“ und konterrevolutionären Bestrebungen der deutschen Großmächte zur Unterwerfung der Nationalversammlung auszuloten.

Den Aktivitäten der Konterrevolutionäre und ihrer Sicht auf die revolutionären Vorgänge widmet sich ein vierter Problemkomplex. Die von H. Müller umfangreich kommentierten österreichischen Gesandtschaftsberichte aus Berlin zeigen, aus welchem Blickwinkel konterrevolutionäre Kräfte das Revolutionsgeschehen beobachteten und werteten, und geben zugleich einen Einblick in die nach dem Sieg der Gegenrevolution in Österreich und Preußen sich verschärfenden preußisch-österreichischen Differenzen. In einer Studie über die Politik der preußischen Staatsstreichregierung Brandenburg-Manteuffel untersucht K. Canis erstmals die verschiedenen Stränge: Verfassungspolitik und innenpolitische bürgerliche Reformen, Militäreinsatz zur endgültigen Niederwerfung der Revolution, Deutschland-politik zur Herstellung eines Bundesstaates unter preußischer Führung und außenpolitische Aktivitäten in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und Verschränkung. Entgegen herkömmlicher Sicht wird nicht Radowitz, sondern Brandenburg als Initiator und Hauptverantwortlicher für die preußische Deutschland- und speziell Unionspolitik herausgearbeitet und das Wesen des Reformkonservatismus als ein Wechselelement der Gegenrevolution näher zu bestimmen gesucht.

Den fünften und letzten Schwerpunkt bildet der komplizierte und widerspruchsvolle Umgang mit dem Erbe der Revolution von 1848. Am Schicksal des Berliner Friedhofs der Märzgefallenen, dem H. Czihak nachgeht, offenbart sich, wie schwer es der offiziellen deutschen Gesellschaft bis ins 20. Jahrhundert hinein fiel, die bürgerliche Revolution des 19. Jahrhunderts als eine wichtige Tradition anzunehmen. Die Dokumentation von W. Schmidt über den Revolutionshistoriker Karl Griewank belegt dessen nach 1945 erneut erfolgte Hinwendung zur Geschichte der demokratischen Ideen und Bewegungen in Deutschland und in Europa sowie zur Revolutionsgeschichte, seine vertiefte Analyse der 1848er Revolution, das durch sektiererische Verlagspolitik in der SBZ verursachte Scheitern einer wichtigen Quellenpublikation im Jahre 1948 und ergänzt die Entstehungsgeschichte von Griewanks bedeutendem Werk über die Entstehung des modernen Revolutionsbegriffs. W. Schmidt analysiert in einem weiteren Beitrag die 1848er Revolutionsforschungen in der DDR-Geschichtswissenschaft. Er zeichnet den historischen Werdegang der wissenschaftlichen Arbeit diesem speziellen Gebiet nach und bilanziert kritisch Leistungen und Grenzen in den verschiedenen Teilbereichen der Revolutionsforschung.

Der Band zeigt in seiner thematischen Breite, wie Jahrestage bedeutender geschichtlicher Ereignisse seit jeher auch Herausforderungen an die Geschichtswissenschaft sind und die historischen Forschungen nachdrücklich stimulieren. Insbesondere der Beitrag des Westberliner Historikers Rüdiger Hachtmann, der in einem ganz anderen politischen und theoriegeschichtlichen Zusammenhang entstand, belegt, daß ein produktives Spannungsverhältnis zwischen altbundesdeutscher Geschichtswissenschaft und ehemaligen DDR-Historikern möglich und sinnvoll ist.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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