Wiedergelesen von Sibille Tröml


Martin Walser: Halbzeit

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1960, 892 S.

Zusammen mit Günter Grass’ Die Blechtrommel (1959) und Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob (1959) gehört Martin Walsers Roman Halbzeit zu jenen drei großen Romanen, die in der Literaturgeschichte gern als eine Art „Meilensteine“ der deutschen Nachkriegsliteratur gewertet werden. Mit ihnen nämlich meldete sich Ende der 50er Jahre eine (noch heute nicht nur die Literatur tragende) Generation - erfolgreich - zu Wort, die zwar jung, aber nicht unerfahren war und die (wohl auch deshalb) selbstbewußt, eigenwillig und (für manchen) eigenartig schreibend versuchte, Sprachen und Bilder für Gegenwärtiges und Vergangenes zu finden. Halbzeit wiedergelesen - also bloße Lektüre aus dem literaturgeschichtlichen Schatzkästlein? Mitnichten. Zumindest, wenn man aus dem Osten des vereinigten Landes stammt und ein Wieder-zur-Hand-Nehmen das Lesen vor und nach der sogenannten ,Wende‘ meint. Aber der Reihe nach.

Als Halbzeit 1960 als Martin Walsers zweiter Roman erschien, war der Autor 1958 das erste Mal in die (für ihn später immer bedeutsamer werdenden) Vereinigten Staaten gereist, und zwar als Teilnehmer am Harvard International Seminar, einer von Henry Kissinger (damals Geschichtsprofessor an ebenjener Universität) ins Leben gerufenen und geleiteten Konferenz, die Vertretern aus 42 Ländern die Möglichkeit geben sollte, sich durch Vorträge, Gespräche und Reisen ein eigenes, vor Ort geprägtes Bild von den USA zu verschaffen. Der junge Mann aus Süddeutschland aber reagierte - im Gegensatz zu manchem seiner Kollegen - auf diese erste Begegnung weder mit einem Reisebericht noch mit einem der sogenannten Amerika-Romane. Zurückgekehrt nach drei Monaten, begann er eigenen Aussagen zufolge nach nicht ganz vier Wochen mit der Arbeit an einem Werk, das er, damals 31jährig, nach 16 Monaten beendete und von dessen 1600 handschriftlichen Seiten nach Überarbeitung und Kürzung 892 Druckseiten blieben - der Roman Halbzeit eben.

Es ist dies die Geschichte eines Mannes, der - Erzähler und Protagonist zugleich - in seinem dritten Lebensjahrzehnt vom erfolglosen Handelsvertreter in verschiedenen Branchen zum vielversprechenden Werbefachmann avanciert, während sich seine Ehe in einer Dauerkrise befindet. Anselm Kristlein, so der Name des verheirateten Vaters von drei Kindern und Liebhabers von ebenso vielen Frauen, sieht sich zu Beginn des Geschehens nach einer Operation aber nicht nur widerwillig in den Schoß der Familie zurückgekehrt, sondern auch mit der Schließung seines thermotechnischen Beratungsbüros und damit dem Ende beruflicher Seßhaftigkeit konfrontiert. Ein Freund indes kann Abhilfe schaffen, denn der Frantzke-Konzern, ein Lebensmittelunternehmen mit Werbeabteilung, braucht für eine neue Produktenkampagne einen Mitarbeiter mit Erfahrung im Außendienst, sprich dem feinen Gespür für den oft alles andere als kaufwilligen Verbraucher. Anselm, jahrelang in Sachen Gummischürzen, Küchenwecker und „ähnlich wichtigem Gerät“ durch die bundesdeutschen Lande gereist, ist hierfür der geeignete Mann. Zwar wird sein genial ausgearbeiteter Werbefeldzug für die Zahncreme „Bianca“ noch vor dem eigentlichen Start zugunsten eines neuentwickelten Senfes vorerst „auf Eis gelegt“, aber der anpassungsfreudige und anpassungsfähige Überredungskünstler hat sich als derart zukunftsträchtig erwiesen, daß er zu einem Kursus ins Stammhaus nach New York entsandt wird. Von dort kehrt er, wie zu Beginn des Romans, nicht ohne innere Widerstände in den Schoß seiner Familie zurück, diesmal allerdings als einer, der sich nicht zuletzt auch dort einfügen will.

Daß sich seiner Zeit einige Rezensenten von Umfang, Inhalt und Form dieses Werkes überfordert bzw. zumindest irritiert zeigten, hat indes weniger mit der hier kurz umrissenen Fabel zu tun als vielmehr mit dem darüber hinaus entworfenen Gesellschaftsbild. Walsers „zeitgeschichtliche Bestandsaufnahme“ (Marcel Reich-Ranicki) nämlich liefert Realitätsausschnitte anstelle des traditionellen Gemäldes, und das in einer derartigen Vielzahl an Details, die nicht jedermanns Geschmack traf. (Günther Blöcker z.B. war das Ganze nicht mehr als ein „Quasselroman“.) Hinzu kommt, daß das „Inventarisieren“ als eine Art Springen im Zick-Zack erfolgt, wodurch wiederum Wichtiges und scheinbar Nebensächliches, Politisches und Privates, Historisches und Gegenwärtiges, Reflektiertes und Erzähltes, Sprachliches und Personales aneinandergeraten, ohne sich zu vermischen. Hierin aber spiegelt sich zum einen die Auffassung des Autors vom Roman wider, zum anderen jene Welt, die er einzufangen versucht. Diese ist eine keineswegs rein privat-abgeschlossene, auch wenn der titelgebende Begriff „Halbzeit“ im Roman nur in den intimen Aufzeichnungen der Ehefrau Alissa zu finden ist. Bezieht er sich dort auf die Beziehung der beiden Eheleute zueinander, so reicht er als Romantitel darüber hinaus. „Halbe Zeit“ im nicht näher definierten Spiel ist es für den Mitte 30jährigen ebenso wie für das Jahrhundert, in dem er lebt. Noch ist die weitere Entwicklung in gewisser Hinsicht offen, doch scheint das Fundament gelegt, sind Grundkonstellationen sichtbar. Für die zweite „Halbzeit“ stellt sich die Frage, was aus dem bis dahin „Erkämpften“ erwirkt wird. „In der Halbzeit richtet sich der Blick zugleich zurück und nach vorn, eine Bilanz wird notwendig“, schrieb Werner Liersch 1961 einleitend in seiner Besprechung in der „Neuen deutschen Literatur“. Da jene Bilanz von Walsers erzählender Figur in erster Linie eine deutsche ist und diese von der Handlungszeit 1957 aus geleistet wird, ist es auch ein gedankliches Innehalten in der Nachkriegsentwicklung zwischen Rhein und Elbe, jener 1959 von Erich Kuby in den „Frankfurter Heften“ als „Halbzeit in Westdeutschland“ markierten Phase. Der Versuch, die noch junge bundesrepublikanische Wirklichkeit in ihrer widersprüchlichen Vielfalt zu erfassen, ist dabei gekoppelt an Aspekte des deutsch-amerikanischen Verhältnisses, von dem prägnante Phasen seiner Entwicklung in der ersten „Halbzeit“ des 20. Jahrhunderts in nicht chronologischer Abfolge ebenfalls in den Erzählfluß montiert werden.

Was aber nun ist das Besondere, das Ost- und Westdeutsche beim Wiederlesen dieses opulenten Wörter-Werkes möglicherweise (wieder einmal) „Trennende“? Ist es die Tatsache, daß Halbzeit bis zum Ende der DDR in selbiger nicht erschienen ist, eine Lektüre der knapp 900 Seiten also in der Leipziger Deutschen Bücherei - einer Präsenzbibliothek! - erfolgen mußte, es sei denn Freunde, Bekannte oder Verwandte besaßen das „Westbuch“ und verliehen es großzügigerweise auch noch? Oder ist es die sich dem einen schneller, dem anderen langsamer bzw. gar nicht aufdrängende Überlegung, daß die in Halbzeit in brillanter Satire dargebotenen Szenen aus den Kinderjahren der Bundesrepublik Deutschland jetzt nicht mehr nur „auch“ im Sinne von „zusätzlich“, sondern „auch“ im Sinne von „ausschließlich“ „mein“ staatshistorisches Zeitbild der 50er Jahre sind bzw. sein sollen? (Stichwort: Gab es die DDR wirklich?) Schwerwiegender als diese beiden - zugegebenermaßen eventuell spitzfindig scheinenden - Argumente wiegt jedoch die Tatsache, daß vieles von dem, was in Halbzeit in zahlreichen „Kleinsterfahrungen“ (Martin Walser, 1975) aus den Anfangsjahren der „alten“ Bundesrepublik erzählt wird, seit 1990 zum unmittelbaren Erfahrungsschatz der Neu-Bundesdeutschen zwischen Spreewald und Harz, zwischen Ostsee und Vogtland gehört. Haustürgeschäfte, Vertreter-Jobs, amerikanisches Englisch, die Amerika- bzw. New York-Reise als ein Muß, der werbetechnische Griff nach dem Unterbewußten, Angepaßte (Stichwort: Mimikry), Schönredner und Aufsteiger, die allesamt (wieder einmal) ohne Vergangenheit sind und einiges andere mehr - die Walsersche westdeutsche „Halbzeit“ der späten 50er Jahre, sie ist zur verspäteten ostdeutschen „Halbzeit“ der 90er Jahre geworden, leicht variiert, leicht anders intoniert und doch im Grunde genommen so erstaunlich ähnlich. (Eine derartig neue, beim Lesen fassungsloses Kopfschütteln erzeugende Aktualität wird der - ostdeutsche - Leser übrigens auch bei der Lektüre von Walsers Romanerstling Ehen in Philippsburg feststellen können.)

Es lohnt also durchaus, sich auf dieses Buch erneut einzulassen. „Die einen“ werden vielleicht entdecken, daß sie im Schnell(st)-Durchlauf nachholen, was „die anderen“ schon vor mehr als 40 Jahren geübt, erlebt, gelebt oder lediglich vorgetäuscht haben, werden anstelle eines „Wiederlesens“ fast so etwas wie ein „Neulesen“ durchleben. „Die anderen“ werden sich - je nach Alter - vielleicht z.B. wehmütig-sehnsuchtsvoll der Jahre des Wirtschaftswunders erinnern. Ungeachtet solch unterschiedlicher Lektüre-Erlebnisse aber werden beide, „die einen“ wie „die anderen“, ganz gewiß noch manch inhaltliche und sprachliche Finesse (wieder- bzw. neu-)entdecken, werden sich an den Sprachgewalten dieses frühen Walsers ergötzen und vielleicht ja auch (noch einmal) Lust bekommen, zu den beiden anderen Teilen dieser Kristlein-Trilogie zu greifen: Das Einhorn (1966) und Der Sturz (1973).


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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