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Die Revolution von 1848/49 im Spiegel der deutschen Geschichtsschreibung

Im Gespräch mit Walter Schmidt

Professor Dr. Walter Schmidt widmet sich seit den sechziger Jahren Fragen der Revolution von 1848 und der frühen Arbeiterbewegung. Seine Forschungen auf diesem Gebiet wurden in historischen Fachkreisen des In- und Auslands aufmerksam verfolgt und diskutiert. Seine wissenschaftliche Bibliographie, die zirka 250 Titel verzeichnet, verdeutlicht darüber hinaus seine Produktivität auch auf anderen historischen Sachgebieten, wie etwa der Wege der bürgerlichen Umgestaltung in Deutschland oder der deutschen Historiographiegeschichte. Sowohl als Leiter des Lehrstuhls Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung am Institut, der späteren Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED seit 1964, als auch als Direktor des Zentralinstituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR von 1984 bis 1990 hat Walter Schmidt leitende wissenschaftliche wie wissenschaftsorganisatorische Funktionen innegehabt. Bereits in den Wendejahren stellte sich Walter Schmidt in mehreren Veröffentlichungen seiner persönlichen Verantwortung und setzte sich kritisch mit der Geschichtswissenschaft der DDR, ihren Leistungen und Grenzen, auseinander. Die von ihm in den letzten Jahren vorgelegten Studien vornehmlich zur Frühgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung und zur Revolution von 1848 belegen, daß Walter Schmidt nach wie vor wissenschaftlich engagiert sein Fachgebiet vertritt.

Die bürgerliche Revolution von 1848/49 stand und steht im Zentrum Ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Was fasziniert Sie noch heute an dieser Revolution?

Das ist eine sehr weitgefaßte Frage. ,Faszinierend‘ ist auch ein etwas schillernder Begriff. Vielleicht geht es mehr darum, was mein ständiges Interesse an dieser Revolution hervorgerufen hat. Und ich meine, das ist zunächst die Tatsache, daß jeder Historiker, der die neuere und neueste Zeit bearbeitet, sich dafür interessiert, wie es zu solchen explosionsartigen Vorgängen in der Gesellschaft kommt, wo von unten gegen oben nicht einfach nur still rebelliert wird, sondern man zur Tat schreitet. Hinzu kam dies: Die deutsche Geschichte, und das war immer eine spezielle Frage, die mich bewegt hat, war ja nicht gerade ausgesprochen reich an Revolutionen und schon gar nicht an siegreichen Revolutionen. Die Gründe dafür zu erforschen, warum in Deutschland ein solcher Weg beschritten wurde, der oft als Sonderweg bezeichnet worden ist - woran ja manches sein mag, aber jedes Land geht ja seinen eigenen Weg -, hat mich schon gereizt. Tatsache ist, daß die deutsche Geschichte dadurch geprägt worden ist, daß die neuzeitlichen Revolutionen, von Reformation und Bauernkrieg bis zur Novemberrevolution, stets mit einer Niederlage oder zumindest einer teilweisen Niederlage geendet haben. Das motivierte mich, den historischen Vergleich mit anderen Ländern und deren Revolutionen vorzunehmen, wozu ich eigentlich schon in der Oberschule angeregt worden bin, vor allem aber dann an der Universität, namentlich durch Karl Griewank, der Vorlesungen über die Neuzeit hielt und ausführlich auf die Französische und die Englische Revolution, aber auch auf die Vorgänge in Italien eingegangen ist.

Es geht also um die Frage, was war gemeinsam und was war unterschiedlich zwischen diesen Ländern und Deutschland.

Das eigentlich Faszinierende an Revolutionen ist ja das Wirken der geschichtlichen Akteure, wie wir früher sagten, der geschichtlichen Subjekte. Ihre Initiative, ihre Entschlossenheit, aber auch ihr Zögern, ihre Verhaltensweisen, ihr Versagen - das interessiert schon. Revolutionen werden ja verursacht durch objektive Umstände, Bedürfnisse, Sachzwänge. Aber ihr Verlauf und ihr Ergebnis hängen wesentlich ab von der Koordination und Kombination der verschiedenen sozial unterschiedlich gegliederten geschichtlichen Subjekte. Das ist schon hochinteressant, und das hat mich eigentlich seit meiner Schülerzeit an der Oberschule immer wieder interessiert.

Last not least eine Frage, die mich vor allen Dingen seit den endsechziger Jahren beschäftigt hat. Die Frage nämlich, welche Wirkungen gingen von Revolutionen generell aus, und dabei gerade auch von niedergeschlagenen Revolutionen. Es ist unbestreitbar, daß die 1848er Revolution, die ja mit Sicherheit eine Niederlage erlitten hat, weil sie die wesentlichen Aufgaben, die zu lösen waren, nicht bewältigte, dennoch tiefgreifende Veränderungen in der sozialen, politischen, ökonomischen Situation in Deutschland bewirkt hat.

Daran ändert nichts die Tatsache, daß die durch die Revolution angestoßenen, vorher schon begonnenen Umwälzungen nun doch auf reformerischem Wege zu Ende geführt wurden. Ich zitiere in diesem Zusammenhang gern einen Satz von Friedrich Engels, über den es sich lohnt, immer wieder nachzudenken: „Die wichtigste Eroberung der Revolution ist immer die Revolution selbst.“

Die Revolution von 1848/49 ist in der Vergangenheit unterschiedlich bewertet worden. Können Sie etwas darüber sagen, welchen Platz die Revolution in der Geschichtskultur in Deutschland allgemein seit den letzten 150 Jahren eingenommen hat?

Es ist eine sehr wechselvolle Rezeptionsgeschichte, der man nachgehen muß. Ablehnung, Verständnis, Akzeptanz und sogar euphorisches Lob auf dieses Ereignis wechseln, was mit den jeweiligen Zeitumständen, aber auch und vor allem mit der jeweiligen gegenwartspolitischen Haltung der einzelnen sozialen Gruppierungen, der verschiedenen Klassen und Schichten, ihrer Parteien und Organisationen zusammenhängt.

Wie war zum Beispiel das Echo in Deutschland auf das Geschehen 1848/49 unmittelbar nach der Revolution?

Es ist schon bemerkenswert, daß die Auseinandersetzung um das Revolutionserbe unmittelbar nach Abschluß der Revolution selbst eingesetzt hat. In den 1850er Jahren wurden in die sen Auseinandersetzungen auch die Leitlinien des Streites um das Erbe von 1848 sichtbar. Die Konservativen suchten die Erinnerung an 1848 durch schlichtes Verschweigen zu tilgen, was ihnen großenteils auch gelungen ist. Sobald sie dieses Ereignis zur Kenntnis nehmen mußten, verteufelten sie die Revolution als Werk von Agenten und Irregeführten und verteidigten bei halbherziger Akzeptanz eines reaktionär beschnittenen, also Scheinkonstitutionalismus die unbedingte Vorherrschaft der Krone.

Die Liberalen wiederum rechtfertigten zwar die Vereinbarungspolitik der Parlamente in der Revolution, näherten sich aber in der Gretchenfrage zunehmend den konterrevolutionären Siegern an: Nicht ein gewähltes souveränes Nationalparlament, sondern vielmehr die preußische Königsmacht sei entscheidend für die auf einen deutschen Einheitsstaat zielende Nationalbewegung.

Nur die radikalen, d.h. die entschiedenen Demokraten und die Sozialisten, hier vor allem Marx und Engels, bekannten sich zur Anwendung revolutionärer Gewalt als legitimem Mittel zur Durchsetzung eines demokratisch-parlamentarischen Systems in einem vereinten Deutschland. Sie feierten den 18. März als Freiheitsschlacht, wobei die Sozialisten - ich glaube mit vollem Recht - den Anteil der Arbeiter an der Revolution herausstellten, sicher auch manchmal überhöhten, und zugleich der europäischen Dimension dieser Revolution größte Aufmerksamkeit zollten.

Wie waren die Reaktionen anläßlich des ersten Jubiläums der Revolution?

Das erste Jubiläum war der 25. Jahrestag 1873. Der stand natürlich noch ganz unter dem frischen Eindruck der deutschen Reichsgründung von 1871, jenes Ereignisses, das dann im Verständnis der Konservativen, aber auch der Liberalen, zum eigentlichen Dreh- und Angelpunkt und einzig gültigen Maßstab der deutschen Geschichte wurde. Die Revolution allerdings verbannte man unter diesem Blickwinkel mehr oder weniger ins historische Abseits, bestenfalls in die Vorgeschichte.

Dieser Jahrestag gab zugleich Auskunft darüber, welche Kräfte gegen diesen Strom schwimmen wollten und mit dem Erbe von 1848 eine demokratische Gegenposition gegen das preußisch-deutschnationale Konzept aufzubauen bereit und in der Lage waren.

Die Konservativen nahmen den Jahrestag prinzipiell gar nicht erst zur Kenntnis. Sie entwickelten ihr an den Erfolgen von 1870/71 festgemachtes Traditionsbild. Der Tag des Sieges von Sedan, der 2. September, wurde zum Feiertag erklärt. In Berlin beging man die Einweihung der Siegessäule - Berliner nennen sie die „Goldelse“ -, eines Denkmals im Tiergarten, das jeder noch heute besichtigen kann. In Lichterfelde legte man den Grundstein für die mit Mitteln aus den französischen Kriegskontributionen erbaute zentrale preußisch-deutsche Kadettenanstalt, in der heute die größten Archivbestände zur Reichs- und DDR-Geschichte lagern.

Die Liberalen - und mit ihnen nicht wenige Demokraten - hatten angesichts der Erfüllung der nationalen Einheitsforderung durch Bismarck mehr oder weniger ihren Frieden mit dem monarchischen Prinzip gemacht und schwiegen sich in den Medien weitgehend aus.

Lediglich eine kleine Gruppe von Demokraten gedachte am 30. März, dem Eröffnungstag des Vorparlaments, der Revolution und ihres Parlaments, deren Leistungen und der Opfer von 1848 und verband dies mit deutlicher Kritik an dem reaktionären Charakter des Deutschen Reiches. Vor allem aber hielt die organisierte deutsche Arbeiterbewegung - Lassalleaner wie Eisenacher, damals noch gespalten - in der Öffentlichkeit und im Volke die Erinnerung an die Revolutionsjahre wach. Es gab demokratische Märzfeiern in vielen Städten. In Berlin organisierte die Arbeiterbewegung eine wahre Pilgerfahrt zu den Märzgräbern im Friedrichshain. Der von der Polizei verbotene und oft gewaltsam verhinderte Marsch zum Friedrichshain wurde zur populärsten Demonstration der Berliner Arbeiter im 19. Jahrhundert. Im Volksstaat erschien in diesem Jahr Georg Herweghs berühmtes Gedicht: „Achtzehnhundertvierzig und acht“ mit dem aufmüpfig optimistischen „Noch sind nicht alle Märzen vorbei.“

Im herrschenden Geschichtsbild des neu gegründeten Reiches hingegen erschien als strahlender Höhepunkt der deutschen Geschichte die Reichsgründung. Namentlich die national-liberal-borussische Schule der akademischen Geschichtsschreibung mit Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke schuf vor allem in den endsiebziger und achtziger Jahren die wissenschaftlichen Grundlagen für die ganz auf das Jahr 1871 ausgerichtete Sicht auf die deutsche Geschichte. Sie fand durch die Medien und mehr noch durch den Geschichtsunterricht der Schulen - nicht nur im Bürgertum - weite Verbreitung.

Die 1848er Revolution blieb in die Vorgeschichte verbannt. Sie erschien in diesem Geschichtsbild mehr oder weniger als eine Sackgasse auf dem Weg zur Einheit. Im günstigsten Falle wurde sie abgewertet als ein mit falschen revolutionären Mitteln unternommener Fehlversuch, bei dem lediglich einige Elemente akzeptabel seien.

Wie gestalteten sich Forschung und Geschichtskultur dann zum 50. Jahrestag?

Der zweite Jubiläumsjahrestag, also die 50-Jahr-Feier 1898, weist eine Reihe neuer Momente in der offiziellen Forschung auf. Noch gibt es keine Wende in der Einschätzung der Revolution durch die akademische Geschichtsschreibung. Eine gewisse Distanzierung von der vorherrschenden borussischen Revolutionssicht und eine begrenzte Aufwertung der Revolution wurden aber dennoch eingeleitet.

Erstmals wurde das Revolutionsthema Gegenstand direkter historischer Forschungen. Teilweise zurückgenommen wurde auch die Verleumdung des 18. März als Werk von Verschwörern. Es begannen offene akademische und öffentliche historisch-politische Auseinandersetzungen über die Stellung zu den Revolutionsereignissen. Seit der Jahrhundertwende nahm sich dann auch die Landesgeschichte, meist in Graduierungsarbeiten, der 1848er Revolution an.

Gleichwohl war immer noch die Arbeiterbewegung die einzige ernst zu nehmende politische Kraft in der Gesellschaft, die vorbehaltlos zum Erbe der Revolution als Ganzem, vor allem zu den bewegenden Aktivitäten des Volkes, stand. Im Vorfeld und aus Anlaß des 50.Jahrestages erschienen erstmals umfangreichere Revolutionsdarstellungen aus sozialdemokratischer Feder - ich nenne nur die Werke von Franz Mehring und von Wilhelm Blos. Zum Berliner Friedrichshain demonstrierte man am 18. März natürlich zu Zehntausenden.

Furore machte - vor allem in der politischen Öffentlichkeit - die scharfe politische Auseinandersetzung über die Stellung zur 1848er Revolution, zu der August Bebel auf der Tribüne des Reichstages genau am 18. März Konservative und Liberale herausgefordert hatte. (Jüngst hat Jürgen Kocka in seinem Akademievortrag über die Revolution diese Vorgänge ein wenig näher untersucht.) Die Konservativen machten in der Debatte von ihrer Abscheu vor der Revolution keinen Hehl und verleumdeten die Märzkämpfer immer noch als ausländisches Gesindel. Die Führer der Liberalen, vor allen Dingen Rudolf Bennigsen, haben in der Berliner Barrikadenschlacht nur eine peinliche Episode gesehen, die vom Glanz der Nationalversammlung überstrahlt wurde.

Bebel hingegen erklärte gegen Bennigsen, daß die Nationalversammlung nur eine Frucht der Märzrevolution war, und verteidigte leidenschaftlich die Ehre der Barrikadenkämpfer. Das Gesindel, so sagte er den Konservativen, werden wir Ihnen noch eintränken. „Das werden wir Ihnen nicht vergessen. Es ist eine Infamie, die Männer, die damals ihr Leben in die Schanzen schlugen und für ihre Ideale kämpften, in solcher Weise zu beschimpfen. Die Männer haben im Jahr 1848 das getan, was Sie 1870 getan zu haben vorgeben und sich dessen rühmen. Wäre 1848 geworden, was die damaligen Kämpfer des Volkes also machen wollten, dann war 1870 unnötig. Dann wäre das Deutsche Reich in ganz anderer Macht und Herrlichkeit als heute schon damals gegründet worden.“ Soweit Bebels Zitat.

Ich muß noch erwähnen, daß neben den Sozialdemokraten auch Linksliberale und demokratische Kräfte sich zu Erinnerungsfeiern aufgerafft haben. In Frankfurt a.M. fand Ende März eine von der Deutschen Volkspartei einberufene Festveranstaltung zu Ehren der 48er Revolution statt, auf der Leopold Sonnemann und Ludwig Quidde die gehaltvollsten Reden hielten. Auch hier durchzog ein Kerngedanke ihre Ausführungen: Ohne 1848 bestünde kein Reichstag, kein Deutsches Reich, keinerlei nationale Errungenschaft, keine bürgerlichen Freiheiten, die es zu verteidigen gelte.

Der bürgerliche Demokrat und führende deutsche Pazifist Ludwig Quidde, der 1927 den Friedensnobelpreis erhielt, begründete am klarsten das Recht auf Revolution, hob die Bedeutung der Grundrechte hervor und kritisierte scharf das Bürgertum wegen seines Versagens, 1848 nicht mit der Arbeiterschaft gemeinsam gegangen zu sein.

Das nächste Jubiläum 1923 fand dann in einer etwas anderen Situation statt, nach dem Ende einer weiteren Revolution, der Novemberrevolution. Welche Auswirkungen hatte das auf die Einschätzung der 1848er Ereignisse?

Der 75. Jahrestag 1923 stand tatsächlich im Zeichen einer Rückbesinnung unter den Bedingungen einer erneuten Revolution und ihres wohl wichtigsten gesellschaftspolitischen Resultats, der Weimarer Republik. Zu neuen Bewertungskriterien in der akademischen Wissenschaft wie in der geschichtsbildenden Politik wurde das erreichte Ergebnis von 1918, d.h. die neue Republik und die Verfassung von Weimar. Im Gegensatz zu den Konservativen, die nach wie vor beherrschend blieben, griffen die „Vernunftrepublikaner“ liberaler und demokratischer Provenienz, die sich zur Weimarer Verfassung als wesentlichem Fortschritt bekannten, nun massiv auf das Erbe der Paulskirche zurück und suchten, eine staatstragende liberale und demokratische parlamentarische Tradition aufzubauen.

Es ist schon interessant, daß zum erstenmal die traditionelle Revolutionsgedenkfeier jetzt am 18. Mai stattfand, und zwar in Frankfurt a.M. An der Feier, die von Vernunftrepublikanern liberaler, demokratischer und namentlich sozialdemokratischer Provenienz getragen wurde, nahm zum erstenmal auch der Reichspräsident Friedrich Ebert teil und verlieh ihr damit einen gewissen staatsoffiziellen Charakter.

Die Nationalversammlung und ihr Werk, die Grundrechte und die Reichsverfassung, das war das von den Veranstaltern favorisierte entscheidende 48er Traditionselement. Die Arbeit der Paulskirche, so Friedrich Ebert auf der Frankfurter Gedenkveranstaltung, wurde damals zwar nicht Wirklichkeit, war aber ein Markstein, der dank der Grundrechte und der Verfassung bis in die Gegenwart hineinreicht.

In der historischen Forschung hatten sich zum 75. Jahrestag eine Reihe bemerkenswerter neuer Tendenzen durchgesetzt, deren Anfänge bis in die Jahrhundertwende zurückreichten, aber erst nach 1918 an Breite und Tiefe gewannen. Die zu 1848 vorgelegten Arbeiten lagen - das gilt es, sich zu vergegenwärtigen - allein im Jahrfünft zwischen 1918 und 1923/24 wesentlich höher als in den zwei Jahrzehnten von 1898 bis 1918.

Auf vier Gebieten lassen sich neue Trends feststellen: Erstens nahmen die Arbeiten zur Nationalversammlung, die quantitativ nach wie vor an der Spitze standen, eine neue Qualität an. Es wurden Untersuchungen zu speziellen Problemen in der Politik der Nationalversammlung vorgelegt. Man suchte erstmals, den Dingen auf den Grund zu gehen. Zweitens verließ die akademische Historiographie erstmals den Bannkreis der hohen Politik von Fürsten, Regierungen und Parlamenten und begann, sich auch den Volksbewegungen an der Basis zuzuwenden. Vorreiter auf diesem Felde waren die Lokal- und Landesgeschichtsforschungen. Drittens wurden neben Vormärz- und 48er Liberalismus auch die linken demokratischen Strömungen im parlamentarischen wie außerparlamentarischen Bereich zu einem nicht unbedeutenden Gegenstand der akademischen Forschung. Viertens schließlich eroberte sich in der Weimarer Republik auch die Geschichte der frühen Arbeiterbewegung einen relativ selbständigen Platz in der Vormärz- und 48er Forschung. Das war, so scheint mir, ein erster Aufbruch in der akademischen Arbeiterbewegungsforschung. Gustav Meyers Verdienste darum, wie um die Demokratieforschung, können nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Am deutlichsten wurden diese neuen Tendenzen in Veit Valentins 1930/31 erschienenen, bis heute noch nicht überholten zweibändigen Standardwerk „Geschichte der deutschen Revolution 1848/49“ reflektiert. Er resümierte in der ersten umfassenden Gesamtdarstellung nicht nur die bisherigen Forschungsergebnisse, sondern er ging durch eigene Forschungen weit darüber hinaus. Sein Werk durchbrach, obwohl methodologisch in traditionellen Vorstellungen verhaftet, in entscheidenden Fragen das bisherige von der gesamten akademischen Geschichtsschreibung konzipierte Revolutionsbild. Es hebt sich gegenüber allen vorangegangenen Darstellungen zumindest durch zweierlei positiv ab: Valentin setzte erstmals in der akademischen Zunft an die Stelle von 1871 die 1848er Revolution als die, wie er schreibt, „große Geschichtswende der Deutschen des 19. Jahrhunderts“. Er überwand auch die bisherige Beschränkung auf die parlamentarisch institutionalisierte Revolution und wies den revolutionären Volksbewegungen den ihnen zustehenden Platz im Revolutionsbild zu. Bei aller unübersehbaren Sympathie und Vorliebe fürs Nationalparlament und für die Liberalen stand für ihn das Recht des Volkes auf Revolution außer Frage.

Zentenarien sind in der Geschichte stets besondere Ereignisse. Wie stand es 1948 mit dem 100.Jahrestag der Revolution?

Der 100. Jahrestag 1948 fand drei Jahre nach Kriegsende und der Zerschlagung des Faschismus statt. Er war im Grunde beherrscht von zwei historisch-politischen Problemen in Ost und West. Zum einen war die Erinnerung an 1848 verbunden mit einer kritischen Bilanz der letzten 100 Jahre deutscher Geschichte. Zum anderen wurde der akut drohende Verlust der nationalen Einheit des Landes thematisiert und grundsätzlich politisch gewertet. Man darf schließlich nicht vergessen, daß der kalte Krieg zwischen Ost und West bereits im Gange war, was sich auch in der Rezeption der 48er Revolution widerspiegelte.

So waren die Jahrhundertfeiern in der sowjetischen Zone und in Ostberlin - die ganz in der Tradition der alten deutschen Sozialdemokratie und der KPD der Weimarer Republik standen - fast ausschließlich der Märzrevolution, mit dem Berliner 18. März als Höhepunkt, gewidmet. Die Frankfurter Nationalversammlung blieb mehr oder weniger am Rande, was nicht bedeutete, daß die Kritik am Verhalten des deutschen Großbürgertums in der Revolution vernachlässigt wurde - im Gegenteil, sie ist nachhaltig artikuliert worden. Der politische Kern des Gedenkens von 1848 in der Ostzone war die Legitimation des bereits vollzogenen gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses als, wie man sagte, Zuendeführung der 48er Revolution und der mit ihr begonnenen bürgerlich-demokratischen Umwälzung. „Wir werden vollenden, was sie begannen“, so formulierte es Wilhelm Pieck auf einer großen Massenkundgebung am 18. März 1948.

In den Westzonen hingegen - ausgenommen in Westberlin, wo am 18. März vor dem Reichstagsgebäude eine Gegenveranstaltung zu der in Ostberlin stattfand - wurde der 18. März im Grunde gänzlich unbeachtet gelassen. Die eigentlichen Revolutionsfeiern fanden hier am Eröffnungstag der Nationalversammlung am 18. Mai in der Paulskirche statt. Man berief sich auf den 1848 begründeten Parlamentarismus und auf die Grundrechte. Die Verwirklichung einer parlamentarischen Repräsentativdemokratie und die „Verwestlichung“ der politischen Verhältnisse, wie es damals vor allem von Hans Rothfels formuliert wurde, erschienen als Erfüllung des Vermächtnisses von 1848. Die Aktionen des Volkes blieben demgegenüber weitgehend ausgeblendet.

Die traditionelle akademische Geschichtsschreibung unterlag gleichermaßen den außerwissenschaftlichen gesellschaftspolitischen Problemlagen, wie sie den öffentlichen Feiern zugrunde lagen. Ein Bruch mit der liberal-konservativen Sicht auf die Revolution fand nicht statt - auch blieb man immer noch auf das Jahr 1871 fixiert. Doch erschien das liberale Bürgertum nun präziser als zentrale Figur der Revolution. Dessen Politik der parlamentarischen Kanalisierung der Revolution und der Vereinbarungen, des Ausgleichs mit dem Adel sowie der Eindämmung und der Abwehr aller revolutionär-demokratischen Vorstöße wurde im Grunde genommen gerechtfertigt.

Die sich formierende marxistische Geschichtsschreibung in der sowjetischen Besatzungszone rückte - den Traditionen der Historiker der Arbeiterbewegung folgend - an die Stelle des bürgerlich-liberalen Favoriten „Paulskirche“ drei Aspekte in den Mittelpunkt: Erstens wandte sie sich den realen revolutionären Auseinandersetzungen des Jahres 1848/49 zu, insbesondere natürlich den Aktionen der Volksmassen. Zweitens zeigte sie besonderes Interesse an der Rolle der Arbeiter und der Entwicklung der Arbeiterbewegung in der Revolution, namentlich am Wirken von Marx und seinen Anhängern. Drittens beschäftigte sich die marxistische Revolutionsforschung - wie die traditionelle auch, nur mit entgegengesetzten Bewertungskriterien - mit der Haltung der liberalen Bourgeoisie in der Revolution. Genannt seien hier zwei Arbeiten von Karl Obermann: die Dokumentation „Einheit und Freiheit“ und seine „Geschichte der Arbeiter in der deutschen Revolution“, sowie Gerhard Schilferts 1952 veröffentlichte Habilitationsschrift über das demokratische Wahlrecht in der deutschen Revolution.

Wie in den Westzonen mit der Favorisierung der Paulskirche und ihrer liberalen Mehrheit, so lagen auch den marxistischen Forschungsschwerpunkten legitimatorische politische Absichten zugrunde. Nachgewiesen werden sollten sowohl die weit in die Geschichte zurückreichende Verwurzelung der im Osten in Angriff genommenen und auf den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zielenden Neugestaltung als auch die von Anfang an demokratische und revolutionäre Gestaltungskraft der Arbeiter. Auch die These vom Versagen der Bourgeoisie war eingebettet in dieses legitimatorische Deutungsschema, nach dem seit 1848 das Bürgertum den Profit über die Nationsinteressen gestellt habe.

In allen drei Punkten aber wirkte die marxistische Revolutionsforschung zweifellos als Herausforderung auf die traditionelle Geschichtswissenschaft. Zugleich hafteten dieser frühen marxistischen Revolutionsforschung wesentliche Mängel an. Die Behandlung der Arbeiter war nicht frei von Überhöhungen und verklärenden Überzeichnungen. Auch wurde der Einfluß von Marx und Engels überdimensional untersucht, die Arbeiterverbrüderung hingegen in der Frühzeit recht vernachlässigt.

Der totalen Verdammung der Volksbewegungen durch die traditionelle Historiographie war indes nicht recht beizukommen mit einer ebenso totalen Positivbewertung der Rolle der Massen in der Revolution. Deren Grenzen, politische Unreife und Verführbarkeit durch die Konterrevolution, wurden anfangs überhaupt nicht thematisiert. Die anfänglich gänzlich unkritische Rezeption Marx-Engelsscher Urteile über die 1848er Liberalen und Demokraten führte zu oft pauschal grobschlächtigen Negativbewertungen dieser beiden politischen Hauptströmungen in der Revolution. Diese wurden erst dank intensiverer Detailforschungen in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre abgebaut und wichen einem differenzierteren Bild.

Wie gestaltete sich die Revolutionsrezeption 1973, d.h. nach dem Bestehen zweier deutscher Staaten, die sich inzwischen gegenseitig diplomatisch anerkannt hatten?

Der 125. Jahrestag, da haben Sie recht, fiel in die Hochzeit der deutschen Zweistaatlichkeit, in eine Zeit, in der auch zwei deutsche Geschichtswissenschaften existierten und miteinander konkurrierten. „Der Streit ums Erbe“ - ein, so meine ich, treffender Begriff, den Günter Wollstein damals prägte - war in vollem Gange, auch und gerade um das Jahr 1848.

Auf geschichtspolitischem, geschichtskulturellem Feld gab es gegenüber 1948 wenig Neues. In der DDR feierte man den 18. März und ließ die Nationalversammlung noch mehr oder weniger links liegen. In der Bundesrepublik stand die Nationalversammlung hoch im Kurs, blieben indes die revolutionären Kämpfe des Volkes weitgehend unbeachtet. Und das, obwohl Gustav Heinemann bereits an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren gefordert hatte, die revolutionären Traditionen nicht der DDR zu überlassen, sondern dieses Erbe in das Traditionsverständnis der Bundesrepublik einzubringen.

In der Forschung zeichneten sich hingegen im Umfeld des 125. Jahrestages in beiden deutschen Geschichtswissenschaften bemerkenswerte neue Tendenzen ab. Bereits in den sechziger Jahren hatte ein Wandel in Richtung auf ein differenzierteres Revolutionsbild seinen Anfang genommen, das sich in den siebziger und achtziger Jahren weiter ausprägte.

Die DDR-Geschichtswissenschaft begann, ein auf die Rolle der Arbeiter verengtes Revolutionsbild zu überwinden. Drei Schriften haben diese Wende zu einer grundsätzlich positiven Bewertung der bislang abschätzig behandelten kleinbürgerlichen 48er Demokratie markiert. Rolf Webers Monographie über die Revolution in Sachsen, die Robert-Blum-Biographie von Siegfried Schmidt und Gunter Hildebrandts Darstellung der äußersten Linken im Frankfurter Nationalparlament. Während sich das Forschungsinteresse der DDR-Geschichtswissenschaft - grob gesprochen - von der äußersten linken und den revolutionären Bewegungen zur gesamten Demokratie und zum Liberalismus hin, gleichsam von links nach rechts und von unten nach oben, weitete, ging die bundesdeutsche Forschung den umgekehrten Weg. Namentlich jüngere Historiker hatten seit den sechziger Jahren schrittweise Arbeiterbewegung, radikale Demokratie und demokratische Potentiale der Volksbewegung in der Revolution ins Visier genommen. Heinemanns Appell von 1969/70 zeigte vor allem bei jüngeren Historikern Wirkung, was sich zumeist erst in Publikationen nach dem Jubiläum niederschlug. Immerhin trat in den Darstellungen jetzt der vordergründige Antidemokratismus zurück.

Vor allem aber führte die nach der Jahrhundertfeier der Reichsgründung 1971 in der Bundesrepublik einsetzende Kritik am Bismarckreich und die Suche nach einer möglichen Alternative zu einer Neubefragung der 1848er Revolution. In diesem Zusammenhang erfolgte erstmals auch eine massive Kritik an der liberalen Vereinbarungspolitik von links. Den 1848er Liberalen wurde vorgeworfen, nicht ein wirklich demokratisch-parlamentarisches System, d. h. die Vormachtstellung des Parlaments in der Gesellschaft, gewollt, sondern mit dem Konstitutionalismus von vornherein der Krone die Prärogative gegenüber dem Parlament zugestanden zu haben. Diese Kritik an den Liberalen führte bis zu der Auffassung, daß nur durch deren Kooperation mit den Linken und die Akzeptanz eines über die liberalen Ziele hinausgehenden revolutionären Vorstoßes die bürgerlich-demokratischen Errungenschaften der Revolution hätten gerettet werden können.

Diese Arbeiten öffneten zweifellos in der bundesdeutschen Revolutionsforschung neue Wege und auch neue Perspektiven. Das gilt in besonderer Weise, so meine ich, für die jetzt massiv einsetzenden 1848er Aktionsforschungen. Ausgehend von der nun zunehmend anerkannten Auffassung, daß soziale und politische Konflikte zur Normalität der bürgerlichen Gesellschaft gehören und diese nicht unbedingt in Gefahr bringen, nahm die Untersuchung von sozialen Unruhen, revolutionären Volksbewegungen und Erhebungen im Vormärz und in der Revolution, vor allem im lokalen und regionalen Bereich, in den siebziger Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung. Sie überrundete auch deutlich die Forschung in der DDR.

Die Hinwendung zur „Revolution der Straße“ lieferte umfangreiches neues Material über die elementaren Revolutionsbestrebungen der sog. Unterschichten und führte so zu einer wesentlichen Vertiefung und Erweiterung des bisherigen Revolutionsbildes. Der politisch determinierte Erbschaftsstreit der beiden deutschen Staaten um 1848 hatte ebenso wie die Konkurrenz der beiden deutschen Geschichtswissenschaften zweifellos produktive Wirkungen für die Revolutionsforschung. Man regte sich gegenseitig an und provozierte neue Fragestellungen. Von beiden Seiten wurden durchaus wichtige Beiträge zu einem tieferen Verständnis der Revolution geliefert.

In diesem Jahr begehen wir den 150. Jahrestag der Revolution von 1848/49, d. h. wir begehen ihn in einem wiedervereinigten Deutschland. Wie wird unter diesem Vorzeichen mit dem revolutionären Erbe umgegangen?

Zunächst, was die Geschichtskultur anbetrifft, hat man auf den ersten Blick - wenn man das geschichtspolitische Interesse der offiziellen Stellen der Bundesrepublik nimmt - den Eindruck, daß man 1973 näher steht als dem Zentenarium von 1848. In der bundespolitischen Terminplanung, so hat man den Eindruck, ist dem Gedenkereignis in diesem Jahr nicht gerade ein vorderer Platz zugewiesen. Und doch ist alles anders. Schon die Medien, vor allem die Printmedien aller Couleur, vermitteln ein anderes wesentlich positiveres Bild. Nahezu alle großen Zeitungen widmeten dem Revolutionsjubiläum, vor allem im März und im Mai, umfangreiche Artikel und ganze Serien.

Eine unbestreitbare Spitzenstellung in der Haltung zur Revolution kommt in der politischen Öffentlichkeit, die sich vor allem an der Basis, in den Städten und Gemeinden, aber auch in den Ländern zeigt, dem süddeutschen Raum zu. Namentlich Baden hat sich hier eine solche Position erobert. Dort wird schon seit Herbst 1997 - in bislang in Deutschland nicht gekannter Intensität und Breite - der Revolution gedacht. Es scheint fast so, als habe die 48er Revolution in Baden bereits Heimatrecht erhalten. Hier wird am offenkundigsten, daß anders als 1973 und 1948 ein unverkrampfterer öffentlicher Umgang mit dem Revolutionserbe Platz zu greifen scheint.

Wie immer man dazu stehen mag, das Revolutionsjubiläum in reichlich nostalgisch inszenierten Volksvergnügungen zu begehen, was in Baden und in Württemberg tatsächlich passiert, wobei Kommerz und Markt in der Tat auch voll zu ihrem Recht kommen: Verglichen mit dem, was sich Berlin an Mißachtung der 48er Revolution leistet, wie schwer sich Senat und Abgeordnetenhaus in der deutschen Hauptstadt mit der Revolution von 1848 tun, die ja an diesem Ort ihren ersten und wohl wichtigsten Höhepunkt hatte, bleiben die Baden-Württembergischen Bemühungen schon sehr bemerkenswert und heben sich deutlich ab.

Die inhaltliche Schwerpunktsetzung der offiziellen Politik scheint ziemlich klar und bleibt - im Unterschied zu den Revolutionsgedenken an der süddeutschen Basis und der Mehrzahl der Printmedien - ganz in der Kontinuität früherer bundesdeutscher Jubiläen der Revolution von 1848. Gefeiert wird in Frankfurt a.M., wo auch die zentrale Ausstellung stattfindet - eine freilich ausgewogene und breit angelegte, weit über die Erinnerung an die Nationalversammlung hinausreichende Ausstellung. Im Zentrum steht allerdings bei den Feierlichkeiten der 18. Mai, nicht der 18. März, der jedoch in dieser Ausstellung sehr nachdrücklich behandelt wird. Als bewahrenswertes Erbe von 1848 wird für die Bundesrepublik nach wie vor vorrangig auf das Werk der Paulskirche zurückgegriffen. Die Märzrevolution erscheint immer noch, so meine ich, etwas marginalisiert.

In den süddeutschen offiziellen Äußerungen zum Revolutionsjubiläum klingen in dieser Beziehung neue, von der bundesdeutschen Forschung freilich seit den siebziger Jahren bereits angerissene Akkorde an. Auch die Demokraten, selbst die radikaler Färbung wie Hecker und Struve, erhalten nunmehr einen Ehrenplatz in der Ahnengalerie der Bundesrepublik. Allerdings wird dabei deren egalitär-sozialer und radikal-demokratischer, auch heute weitgehend uneingelöst gebliebener Forderungskatalog mehr oder weniger schweigend übergangen.

Die Situation in der Geschichtsforschung ist zunächst einmal dadurch gekennzeichnet, daß seit einem knappen Jahrzehnt offiziell nunmehr wieder nur eine deutsche Geschichtswissenschaft existiert. Die marxistische Revolutionsforschung der DDR-Historiographie, der man bis 1990 von bundesdeutscher Seite wie international nicht geringe Anerkennung gezollt hatte, wurde vollständig abgewickelt. Sie wurde aus dem institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen und ist - soweit ihre Vertreter weiterarbeiten, und wir haben gesehen, daß sie weiterarbeiten - integrierter Bestandteil der, wie Mitja Rappoport es kürzlich formulierte, zweiten Wissenschaftskultur in Deutschland geworden.

Die bereits im Vorfeld des Jubiläums erschienene und zum Jahrestag noch erscheinende, von mir nur zum geringen Teil schon eingesehene historische Literatur - es handelt sich hier im merhin um fast 60 Titel - stammt bis auf fünf Publikationen originär ostdeutscher Autoren zu 90 Prozent aus der Feder altbundesdeutscher Historiker. Bezieht man die in der Bundesrepublik und in der DDR vorgelegten Arbeiten der siebziger und achtziger Jahre mit ein, so zeigt sich, daß die 1973 sichtbar gewordenen neuen Forschungsansätze eine weitere Ausprägung erfahren haben, ohne daß die traditionellen Themen wie Nationalversammlung und Liberalismus gänzlich in den Hintergrund getreten sind.

Im einzelnen zeichnen sich in meiner Sicht folgende Tendenzen ab. Erstens: Studien zur sog. institutionalisierten Revolution, namentlich zur Frankfurter Nationalversammlung und zur liberalen Regierungspolitik, nehmen durchaus keinen vorderen Platz mehr ein. Aber sie weisen einige neue Momente auf. Neu ist die umfassende Analyse der Politik der Liberalen in der Nationalversammlung und in der ersten bürgerlichen Märzregierung im Camphausen-Ministerium in Preußen. Neu ist auch eine vergleichende Strukturanalyse zwischen Frankfurter und Pariser Nationalversammlung, die Untersuchung der Arbeit des volkswirtschaftlichen Ausschusses und das sehr wertvolle Angebot gewichtiger Handbücher zu den Abgeordneten der Nationalversammlung.

Zweitens: Mehrere größere Studien über revolutionäre Volksbewegungen an der Basis weisen aus, daß in den letzten Jahren die „Revolution der Straße“, d.h. die vielfältigen, sozial unterschiedlichen, nicht selten auch in gegensätzliche Richtungen zielenden spontanen revolutionären Aktivitäten der Bauern, der Arbeiter und der Handwerker, gegenüber der institutionalisierten Revolution an Gewicht im modernen Revolutionsbild gewonnen haben.

Drittens: Im letzten Vierteljahrhundert gewann die Forschung qualitativ neue Erkenntnisse über die politischen und sozialen Organisationsbestrebungen der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte in der Revolution. Arbeiter und kleinbürgerliche Demokraten waren die Pioniere in diesem die bürgerliche Gesellschaft wesentlich mitgestaltenden Prozeß, der 1848 einen Höhepunkt erreichte. Das politische Vereinswesen und die damit verbundenen Anfänge der Parteibildung in Deutschland wurden vor allem von den Demokraten vorangebracht. Im Unterschied zur älteren Forschung, die die Entstehung der politischen Parteien vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, an die Parlamentsfraktionen band, wies - und das ist vor allem neu - die jüngere Forschung in Ost wie West nach, daß die elementaren Organisationsleistungen im außerparlamentarischen Bereich die eigentliche Basis der Parteibildung abgaben.

Viertens: In den letzten zweieinhalb Jahrzehnten nahm sich die Forschung bis dahin nicht beachteter oder vernachlässigter Bereiche der Revolutionsgeschichte an. Revolutionsalltag und -kultur wurden Gegenstand von Arbeiten, in denen die verschiedenen Formen des politischen Engagements größerer Bevölkerungsteile untersucht wurden. Gebrochen wurde mit der herkömmlichen Vorstellung, daß die Revolution allein Sache der Männer gewesen sei. Die Frauenforschung eroberte sich auch die Revolution.

Fünftens: Einer der auffälligsten und bemerkenswertesten Trends der jüngsten Revolutionsforschung, über den noch weiter nachgedacht und der noch weiter analysiert werden muß, ist die historische Revolutionskomparation, die seit Mitte der siebziger Jahre international und national - in der DDR vor allem durch das Leipziger Zentrum für vergleichende Revolutionsgeschichte - Raum gegriffen hat. Die europäische Dimension des 1848er Revolutionsgeschehens fordert ja auch eine vergleichende Revolutionsbetrachtung geradezu heraus. Für zahlreiche Jubiläumspublikationen ist diese Problematik geradezu zu einem Merkmal geworden. Ich habe unter den etwa 60 Arbeiten knapp zehn gezählt, die den internationalen Charakter und den Revolutionsvergleich stark tangieren. Ich nenne da neben der Arbeit von Jonathan Sperber, „The european revolutions 1848-1851“, den Hauptstädtevergleich Paris-Berlin, ein Protokollband, der bereits 1995 erschien, den von Dieter Dowe, Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche herausgegebenen Sammelband über „Europa, Revolution und Reform 1848“, in dem mehr als 40 Autoren in einem vergleichenden querschnittartigen Überblick Handlungs- und Problemfelder immer komparativ in den verschiedenen Ländern untersuchen. Zu erwähnen ist schließlich ein Sammelband von Langewiesche, der internationale Aspekte und europäische Verbindungen der Demokratiebewegung am Vorabend und in der Revolution von 1848/49 zum Gegenstand hat.

Sechstens: Mehrere eigenständige Überblicksdarstellungen zur deutschen Revolution, die bereits im Vorfeld des 150. Jubiläums entstanden sind, so etwa die Revolutionskapitel in den Werken zur deutschen Geschichte von Thomas Nipperdey, Hans-Ulrich Wehler und Ludz, der vierte Band der in der DDR erarbeiteten „Deutschen Geschichte“ oder die „Revolutionen der Weltgeschichte“ von Manfred Kossok, haben einige der neuen Forschungsansätze und Ergebnisse bereits zur Geltung zu bringen gesucht.

Deutlicher als in früheren Revolutionsgeschichten wurden die verschiedenen Handlungsebenen und Aktionsbereiche der Revolution sichtbar gemacht, so vor allem von Wolfram Siemann, und auch, so vor allem von Nipperdey, Alltag und Kultur in die Revolution eingebracht. Mehr Platz ist den spontanen Aktionen und Bewegungen mit ihren unterschied-lichen und nicht selten gegenläufigen Zielen und politischen Organisationsbemühungen an der Basis zugewiesen worden. Die früher oft offen militante und latente Aversion gegen die Revolution der Straße scheint einer gelasseneren Behandlung dieses Gegenstandes zu weichen. Eine Aufwertung dieser von den Massen getragenen Aktionssphären ist nicht mehr zu übersehen.

Auffallend ist auch die durchweg positivere Bewertung der transformatorischen Funktion der Revolution. Ihr wurde, wie schon seit längerem in der neueren, auch marxistischen Revolutionsforschung, neben der industriellen Revolution die entscheidende Rolle bei der bürgerlich-kapitalistischen Modernisierung der Gesellschaft zugewiesen. Während zu den Ursachen des Scheiterns der Revolution kaum neue Aspekte ins Feld geführt werden - Überforderung durch Problemkumulation bleibt der Hauptgrund, der hierfür genannt wird -, wird die frühere pauschale These von einer generellen oder totalen Niederlage der Revolution nun auch für Deutschland mehr denn je in Frage gestellt.

Bei all diesen Fortschritten bleibt ein Defizit, das man nicht übersehen sollte: Es fehlt immer noch ein großes Werk, das die seit Veit Valentins Zweibänder erreichten Forschungsleistungen verarbeitet und diesem an die Seite gestellt werden kann.

Das Gespräch führte Wolfgang Voigt


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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