Eine Rezension von Horst Müller


Reisen in Griechenland

Nikos Thanos (Hrsg.): Wohin ich auch reise ...

Literarische Beschreibung Griechenlands.

Romiosini Verlag, Köln 1998, 399 S.

Reisen sei das Remedium gegen Lebensüberdruß, hat einst Francesco Petrarca befunden. Einer, der dieser weisen Erkenntnis durchaus entsagen kann, dürfte der Athener Antonis Samarakis sein. Mit allen Fasern ist er mit seiner Stadt verbunden. Kein Tag vergeht, an dem er sich nicht in einer Zeitung, im Funk oder Fernsehen zu Wort meldet. Folglich stapeln sich in seinem Zuhause Journale über Journale, keines seiner Zimmer bleibt von einem Radio oder TV verschont. Wie kommt es, daß er, der mit seinen Romanen Der Fehler und Die Notbremse sowie mit den Erzählungen im Auswahlband Der Reisepaß seit den siebziger Jahren hierzulande bekannt geworden ist, nun in der soeben beim Romiosini Verlag Köln erschienenen Sammlung griechischer Reiseskizzen auftaucht? Irgendwann muß dem quirligen Geist bewußt geworden sein, daß Griechenland nicht ausschließlich aus Athen besteht. Also hat er an einem x-beliebigen Tag kurz entschlossen in Piräus eine Fähre südwärts nach Folegandros bestiegen, allerdings nicht, ohne sich für die Reise vorher ein Kofferradio geliehen zu haben. Ganze zwei Tage reichten aus, daß sich ihm die stolze Kykladen-Insel mit allen ihren Eigentümlichkeiten offenbart hatte, unter anderem mit einem mitternächtlichen Spuk, den ein Mondsüchtiger verursachte. Um für die ebenso kurz entschlossene Rückfahrt bloß nicht den abendlichen Dampfer zu verpassen, saß unser Musensohn dann „mit großem Bedauern“ bereits am Morgen im Kafenion der Frau Margarita am Hafen. Den auf dem Holzkohlefeuer gegrillten Fisch zum Ouzo spendierten ihm zwei Fischer, ihnen schenkte er das Radio, sie entließen ihn nicht, ohne ihn gleich mit mehreren Kisten frischer Fische versorgt zu haben.

Wie sich da Fremde begegneten, diese Art und Weise, die heutigen Tags den Außenstehenden völlig anachronistisch anmutet, ist die urgriechischste Sache von der Welt. Dreieinhalb Seiten, von Antonis Samarakis unpretentiös erzählt, treffen den Kern der im vorliegenden Sammelband enthaltenen sechsundvierzig Erzählungen, Skizzen, Berichte und Tagebuchnotizen. Insgesamt fünfundzwanzig griechische Autorinnen und Autoren - bis auf wenige Klassiker der Neuzeit (Alexandros Moraitidis, Alexandros Papadiamandis, Andreas Karkavitsas) meist zeitgenössische - waren im eigenen Land unterwegs, um herauszufinden, was nationale Identität heute bedeutet bzw. früher einmal bedeutet haben mochte. Vor allem vermitteln sie ein Gefühl dankbarer Verbundenheit mit dem Ort, an dem man zur Welt gekommen und aufgewachsen ist. Allgegenwärtig ist der “unsere Augen entzückende“ Reiz der griechischen Landschaft, und zwar der Stadt-, Gebirgs-, Küsten- und Insellandschaft gleichermaßen, der überall, in Saloniki im Norden, auf dem Pindos im Osten, in Messolonghi im Westen, auf Monemvassia, Santorini und unten in Kreta zu verspüren ist. Mehr im Hintergrund bleiben die Impressionen über die Akropolis von Athen, über Delphi, Olympia, Delos, über alle die berühmten Stätten, mit denen man bei uns zulande noch am ehesten vertraut ist. Etwas eingehender werden hingegen die Schauplätze besichtigt, die an die große Zeit der Befreiungskämpfe gegen die Türken erinnern. Dabei widerfährt den Kolokotronis, Kapodistrias, Karaiskakis, Katsonis, Skuses und den unzähligen namenlosen Helden schon deshalb keine romantische Verklärung, weil sie stellvertretend für die vielen stehen, die sich nach ihnen ebenfalls für ihr Vaterland aufgeopfert haben. Es spricht für die Noblesse des Herausgebers, daß er bei seiner literarischen Rundreise an Orten, an denen sich im letzten Krieg Deutsche versündigt haben, nur flüchtig verweilt. Ausgespart bleiben ebenfalls Texte doppelten Leidens derer, denen Griechenland zeitlebens ein Alp war und die dann doch in der Fremde jedesmal das Heimweh plagte (Nikos Kazantzakis, Giorgos Seferis). So trifft erfreulicherweise das für das Buch gewählte Motto „Wohin ich auch reise, Griechenland bereitet mir Wunden“ nur auf den kleineren Teil der Autoren zu. Allesamt sind sie - eine weitere Zeile aus dem 1936 entstandenen Gedicht von Giorgos Seferis, aus dem auch das zitierte Motto stammt - nicht „seltsame Leute, die sagen, sie wohnten in Attika, und wohnen doch nirgendwo“. Sich zu ihrem Griechenland zu bekennen fällt - zumindest den Jüngeren unter ihnen - in der Gegenwart erheblich leichter, nachdem man das traurige Schicksal los geworden ist, im Armenhaus Europas zu wohnen. Und das gilt heute selbst für einen Bergbauern am Fuße des Profitis Ilias auf Milos, der scheinbar weltentrückt Härchen um Härchen die Füße des geschlachteten Zickleins abpusselt, um sich eine Bouillon zu kochen. Ohne weiteres könnte er sich eine Haifischflossensuppe aus der Konserve vom Supermarkt in Adamas gönnen, aber auf diese abwegige Idee dürfte er wohl nicht einmal im Traum verfallen.

Unter der griechischen Sonne gediehen seit jeher Alternativen. Christos Salokostas (1896-1975) stellt mit Ambelakia einen Ort vor, an den - 150 Jahre ist das her - ein junger Mann aus der Familie Drossos, Doktor der Philosophie der Universität Leipzig, aus Deutschland deshalb zurückgekehrt ist, „weil er hier mehr Kultur“ fand. „Vor der französischen Revolution, bevor die Menschenrechte erklärt wurden, lange vor Fourier und Marx, auch bevor die Utopisten es wagten, über diese Idee zu schreiben, in einer Zeit, als die Arbeiter in allen Ländern wie Sklaven lebten, wurde hier auf den einsamen Felsen des Ossa eine noch nie gehörte Idee geboren und zur Reife gebracht: die Verschwisterung von Kapital und Arbeit.“ Man hatte in der fruchtbaren thessalischen Ebene damit begonnen, Baumwolle anzubauen, und fand für das Garn, das mit einer Mischung von Krapp und aus Meeresschnecken gewonnenem Purpur gefärbt wurde, über die eigenen Handelsniederlassungen in Wien, Konstantinopel, Odessa, Lyon, Amsterdam, Triest, London und Leipzig Absatz in einem ungeahnten Ausmaß. Dieses einzigartige Glück, das „kostenlose Aufführungen antiker Tragödien an den Sonntagen, Schulerziehung der Kinder, gesellschaftliche Fürsorge zu Lasten des Reichtums, Arbeit für alle, Wahrung einer strengen Moral“ bescherte, basierte auf dem „Gemeinschaftsgeist, der im antiken Griechenland so viele Wunder bei den Orphikern, bei Pythagoras, in Sparta, bei den Makedoniern bewirkt hatte“. Das heißt, man hatte genossenschaftlichen Zusammenschluß produktiv zu gestalten gewußt. Vom alten Ruhm zeugen in Ambelakia noch heute die Häuser reicher Genossenschaftler, so zum Beispiel das dreistöckige, mit feinen Holzschnitzereien geschmückte Haus des Kyrios Mavros (des Herrn Schwarz), genannt “der neue Parthenon“.

Nach wie vor hat griechische Lebensart, die sich im vorliegenden Band aufs schönste manifestiert, ihr Anziehendes bewahrt. Etwas davon scheint sich bei der Herausgabe dieses Buches auch auf Lektorat und Übersetzungen übertragen zu haben, so daß, wer deren gelegentliche Lässigkeiten monierte, unnützen Verdruß verbreiten und somit neuerlichem Verreisen Vorschub leisten würde - nirgendwohin als nach Griechenland.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite