Eine Rezension von Friedrich Schimmel


Von der Seelenruhe, von Lastern und vom Leben überhaupt

Seneca-Brevier

Übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister.

Philipp Reclam jun., Ditzingen 1996, 272 S., 11 Abb.

Seit vielen Jahren pflegt Reclam in Stuttgart/Ditzingen die Autoren der Antike mit schönen kleinen Ausgaben. Als Reclam-Lesebuch erschien das Seneca-Brevier. Schon die Einbandgestaltung verdient Wertschätzung. Man sieht einen Ausschnitt aus einem Wandgemälde in Pompeji, aus dem Haus des Pinarius Cerialis: Ein geflügelter Amor im Gespräch mit einem Mann, beide mit bedeutungsvollen Gesten in wichtige Materien vertieft.

Wer die Texte Senecas heute liest, vermag nicht so recht daran zu glauben, unter welch spektakulären Bedingungen dieser Mann lebte und starb. Von den Boten des Kaisers Nero zum Selbstmord aufgefordert, weil er von der Pisonischen Verschwörung gewußt habe, wählte er, nach dem Vorbild des Sokrates, eine intensive und bewußte Vorbereitung auf seinen unvermeidlichen frühen Tod. Der Tod sollte der Prüfstein sein für die Wichtigkeit, die Richtigkeit seines Lebens und seiner zu Lebzeiten gedachten Vorstellungen vom Leben. Berühmt ist seine Selbstrede: „Wie weit ich es wirklich gebracht habe, werde ich erst nach dem Tode glauben. Ohne Furcht richte ich mich daher auf den Tag ein, an dem ich ohne Tricks und Schönfärberei das Urteil über mich fällen werde: ob ich nur tapfer rede oder auch so fühle, ob es Heuchelei und Theater war, was ich an trotzigen Worten dem Schicksal entgegengeschleudert habe.“

Die weltkundige Lebenslehre des römischen Staatsmannes Seneca ist auch heute noch eine bevorzugte Lektüre. Bevorzugt von Lesern, die wissen wollen, wie das war und ist mit dem Unrecht, das Menschen immer wieder Menschen antun. Ist der Mensch nun ein sittliches Wesen oder nur ein mühsam erzogenes Tier, wer gefährdet wen, der Mensch die Zeit oder die Zeit (die Umstände) den Menschen, all das ist mit Seneca und ohne ihn von bleibendem Interesse.

Der von Nero zum Selbstmord gezwungene Seneca hat über ein Leben, über sein Leben und über das Leben anderer nachgedacht. Er hat erfahren, daß jeder, ist er nun gut oder böse, geizig oder schlau, reich oder arm, in der Gesellschaft, die ihn umgibt, geknebelt oder geknetet, vielen Verführungen und Gefahren ausgesetzt ist. In seinen Schriften gibt Seneca eine Fülle von Ratschlägen, wie man sein Leben einrichten kann, seine Pflicht erfüllen soll durch Abstreifen alles Nebensächlichen. Das Ziel heißt bei Seneca: mit sich selbst im Einklang leben. Um das zu erreichen, bedarf es langer Übungen und Einsichten, steter Selbstbeobachtung, modern würde man sagen penibler Seelenerkundung. Zuerst müssen die Laster erkannt werden: „Täglich wächst die Lust am Frevel, täglich nimmt das Schamgefühl ab. Man nimmt keine Rücksicht mehr auf das Gute und Rechte, Willkür macht sich überall breit, und die Verbrechen geschehen nicht mehr im Geheimen, vor aller Augen gehen sie vor sich; die Niederträchtigkeit hat so sehr auf die Öffentlichkeit übergegriffen und in den Herzen aller so tiefe Wurzeln geschlagen, daß die Unschuld nicht eine Seltenheit geworden ist, sondern überhaupt nicht mehr existiert. Dann haben nur einzelne oder wenige die Gesetze gebrochen? Nein, von allen Seiten, wie auf Kommando, ist man losgestürzt, um Recht und Unrecht völlig durcheinanderzuwerfen.“

Seneca sagt das, und es wundert nicht, daß Seneca ganz modern erscheint. Das alles hatten die alten Römer also auch schon. Und die Menschheit hat überlebt? Damals wie heute: Man liest die schneidende Kritik: „Wie sehr haben heutzutage die Gesundheitsschäden zugenommen! Damit bezahlen wir die Zinsen für die sinnlichen Genüsse, auf die wir über jedes erlaubte Maß hinaus versessen sind.“

Wann immer die Geister, Philosophen und Esoteriker über die Übel der Welt Bescheid gewannen, sie konnten ausführlich und prächtig illustriert von den Verfehlungen, den Sünden, den Falschheiten und Niederträchtigkeiten berichten. Sich selbst zu kritisieren fiel schon schwerer, vor sich hatte der Kritiker ja die jammernde, jämmerliche Menschheit. Wenn es aber darum ging, Besserung nicht nur zu geloben, sondern auch im praktischen Handeln zu zeigen, gerieten und geraten die Weltverbesserer schnell aus dem Häuschen. Sie bevorzugen Gemeinplätze, seit Seneca. Hatte der Leser eben noch seine Freude an Senecas Urteilen, Heuchler, Ver-Wandler und Händler betreffend, stößt er bald an die Grenzen dieses moralisierend-aufklärenden Denkens, wenn er etwa liest: „Die Vernunft aber ist nichts anderes als ein Teil des göttlichen Geistes, versenkt in den menschlichen Körper.“ Und das geht so weiter mit Seneca: „Was nun verlangt diese Vernunft vom Menschen? Etwas sehr Einfaches: gemäß seiner Natur zu leben.“

Sittliche Vollkommenheit, die Seneca erdachte, erhoffte, sie war, ist und bleibt ein schön gemaltes Traumbild im Buch der Menschheit. Da vieles unvermeidlich immer wiederkehrt, ist es gut, ja gerade vergnüglich und anregend, im Seneca-Brevier zu lesen, immer wieder.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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