Eine Rezension von Miriam Margraf


Eine Soap-Oper des 19. Jahrhunderts

Henry James:

Washington Square

Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1997, 258 S.

Endlich ist Washington Square von Henry James beim Aufbau-Verlag als Taschenbuch erschienen. Die Anglistik-Studenten, zu deren Pflichtlektüre das Werk vermutlich zählt, atmen auf, sich nicht mehr durch das Original quälen zu müssen, wenn in den Bibliotheken die Hardcover-Ausgabe der deutschen Übersetzung vergriffen ist.

Natürlich tue ich dem Klassiker unrecht, wenn ich zugebe, daß ich mich bei der Lektüre entsetzlich gelangweilt habe. Aber selbst geschätzten Autoren wie Fruttero & Lucentini ist es wohl ähnlich ergangen, da sie James beschreiben als „einen dieser Schriftsteller, bei deren Lektüre man sich anstrengt, wie wenn man ein Fahrrad den Berg hinaufschiebt“.

Zum richtigen Buch hat allerdings derjenige gegriffen, der an einem genauen Zeitbild interessiert ist. Minutiös schildert der Autor den Lebensstil amerikanischer Aristokraten um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Die Story ist simpel: Dominanter Vater verwehrt tumber Tochter Heirat mit erbschleicherischem Gimpel. Am Ende fügt sich das Mädel emotionslos und verblödet zur stickenden alten Jungfer.

Mit Hingabe zum Detail schildert James seine Charaktere, zeichnet die Erstarrung in großbürgerlichen Konventionen. Konventionen, die dem Autor selbst, so der Eindruck, bewahrenswert erscheinen. Keine kritische Distanz trübt den Anblick des schillernden Sittengemäldes. Aus heutiger Sicht liegt gerade hier das Verdienst von Henry James: Er überliefert uns ein Bild des aristokratischen Ambiente seiner Zeit, der Werte und der Moral, in deren Sinne er erzogen worden ist und die er verteidigt. Auch er trägt die Scheuklappen der Oberschicht, deren Angehörige Mitmenschen unterhalb einer gewissen Einkommensgrenze ausblenden. Eine Soap-Opera des neunzehnten Jahrhunderts: die Schönen und die Reichen. Konfliktstoff: Eine häßliche Reiche könnte durch einen armen Schönen um ihr Geld geprellt werden. Böse! „Dallas“ vor hundertfünfzig Jahren. Jedoch (Asche auf das Haupt der Spötterin) geschrieben von einem, der wirklich schreiben konnte: sprachlich geschmeidig und pronounciert, was auch die Übersetzung von Ana Maria Bock vermittelt. Das letztlich ist der einzig gute Grund, weshalb man das Buch, wenn man nichts Spannenderes zur Hand hat, der Fernbedienung vorziehen sollte.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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