Eine Rezension von Horst Müller


Neue Leute braucht das Land

Teresa Cordopatri dei Capece/Angelica Rago Gallizzi:

Schwarzes Schweigen. Eine Frau kämpft gegen die Mafia

Aus dem Italienischen von Werner Raith.

Ingrid Klein Verlag, Hamburg 1996, 159 S., mit 20 Fotos

Wenn von Mafia bzw. Ndrangheta, der kalabresischen Variante, die Rede ist, geht es immer um dasselbe. Auch die Denkschrift der Baronin Teresa Cordopatri und ihrer Kusine Angelica handelt von Mord. Am 10. Juli 1991, 9.30 Uhr, wurde vor seinem Palast in Reggio Calabria, Via d’Annunzio 9, Baron Tonino, der letzte männliche Nachfahre der Familie, von einem gedungenen Mörder mit drei Pistolenschüssen getötet. Die Capece, aus Schweden stammend, waren unter Karl dem Großen, also um das Jahr 800, in die Campania gekommen und geadelt, das heißt „mit einem üppigen Lehen“ ausgestattet worden. Ein Rest davon hatte sich erhalten; die Ländereien von Castellace mit ihrem Bestand an Olivenbäumen erbrachten einen jährlichen Ernteertrag im Werte von umgerechnet 7 Millionen DM.

Als per 1. Oktober 1994 die Versteigerung ihres Palastes drohte, weil sie anstehenden Steuerforderungen nicht nachkommen konnte, überraschte die Baronin mit einer aufrüttelnden Aktion. Zum Letzten entschlossen, begann die Zweiundsechzigjährige am 12. September 1994 auf dem Platz vor dem Justizpalast mitten in Reggio Calabria einen Hungerstreik. Seit dreißig Jahren war es den Eigentümern bei Lebensgefahr verwehrt gewesen, ihren Grundbesitz in Castellace zu betreten. De facto bestand keine Handhabe, vom Pächter der Olivenhaine irgendwelche Nutzungsentgelte erstattet zu bekommen. Als man schließlich erwog, die Bäume zu fällen und das Holz zu verkaufen, um sich anderswo niederzulassen, trug ein Mann des Vertrauens diesen heimlich gefaßten, verzweifelten Entschluß nach außen, was die tödlichen Schüsse zur Folge hatte. Alles, was man zur Abwehr von Erpressung und zur Ahndung mehrfach angedrohten und versuchten Mordes bis dahin von den zuständigen Behörden angemahnt hatte, war jedesmal abgewiesen worden. Vergeblich hatte man sich eingeschränkt, mit Antiquitätenhandel und Erteilen von Privatunterricht notdürftig die Existenz bestritten und das öffentliche Leben gemieden. Gegenüber dem organisierten Verbrechen war man macht- und schutzlos.

Am Schlußpunkt dieses durchlittenen Weges steht die Erkenntnis: „Wir sahen uns seit vierzig Jahren regiert von einer Politikerschicht, die ihren Gefolgsleuten Machtpositionen zuschanzte, dabei fett wurde und alle anderen alleine ließ ... Doch plötzlich, als ich alte Frau mit meinen grauen Haaren trotz meiner erlahmenden Kraft auf der Piazza mit fester Stimme sagte: ,Die Mafia ist Korruption, ist der perverse Filz aus Politik, Justiz und Polizei‘, [empörten sich] die Bürger von Reggio Calabria, die da Solidarität zeigten, über einen Staat, der sich unfähig zur Garantie des Privateigentums zeigte und nur beim Eintreiben von Steuern Sorgfalt bewies. Am Ende riefen die Leute immer wieder aus: ,Die Regierung ist eine Diebesbande! Wir brauchen neue Leute!‘“

Endlich war in die „Mauer aus Angst“, dieses Resultat einer unheilvollen Liaison von politischer Klasse und Mafia zur Verhinderung einer demokratischen Erneuerung Italiens, eine Bresche geschlagen worden. Binnen kurzem war die bisher amtierende politische Kaste abserviert, als sie nach dem Ende der Systemkonfrontation, wofür die Maueröffnung an anderem Ort das Symbol abgibt, wegen ihrer zwielichtigen Machenschaften als kriminell dastand. Ohne Zweifel haben es die Veränderungen der politischen Großwetterlage mit bewirkt, daß der Hungerstreik einer einzelnen Frau nach dreiundzwanzig Tagen erfolgreich beendet werden konnte. Bewunderungswürdig bleibt indessen die bewiesene Couragiertheit, die ganz offensichtlich aus einem hohen Maß an neuem Denken erwachsen ist. Allein wenn man bedenkt, daß im nahe gelegenen Pizzo bis auf den heutigen Tag eine Hauptstraße im Zentrum nach Benito Mussolini, dem Sohn dieser Stadt, benannt ist, spricht schon die Entschiedenheit für sich, mit der Teresa Cordopatri den Überfall Italiens auf Albanien im Jahre 1940 als einen ungerechten Krieg bezeichnet. Ihr Vater war da als Artilleriemajor aus patriotischer Pflichterfüllung noch mit vorneweg marschiert. Die Baronin selbst, so meinen wir, verdient die Redliche zu heißen, weil sie das, worüber zu reden war, auch in die Tat umzusetzen wußte (credimusque, quia fiat, quod dictum est, appellatam fidem). Über Ciceros Pflichtenlehre, in der erörtert wird, wie streng die Gesetze menschlichen Zusammenlebens darauf bezogen sind, daß keiner das Eigentum des anderen verletzt, gelangt sie indessen weit hinaus. Als sie ihre Verzweiflung überwand und sich ins Freie wagte, um Gerechtigkeit zu fordern, hielt sie es mit Maximilien Robespierre, der ausgerufen hatte: „Das Volk muß aufstehen, nicht um sich Zucker zu verschaffen, sondern um Schurken zu zerschmettern.“

Wie hart im Süden Italiens das tägliche Brot gegessen wurde, wußte man nicht erst seit Carlo Levis berühmter Schilderung Cristo si è fermato a Eboli/Christus kam nur bis Eboli aus dem Jahre 1945. Die fünfzig Jahre danach von Teresa Cordopatri und Angelica Rago vorgelegte Denkschrift veranschaulicht, welche Mißbildungen seither gewuchert sind, da eine demokratisch legitimierte Reform der Gesellschaft ausgeblieben ist. So vereint dieses Buch zwei Dinge in einem: Erstens plädiert es für mehr soziale Gerechtigkeit, für demokratischere Strukturen sowie für ein neu geordnetes politisches System; zweitens appelliert es an die Öffentlichkeit, von den erstrittenen Rechtspositionen nicht wieder abzulassen. Der am 10. Juli 1991 ermordete Bruder von Teresa Cordopatri dei Capece wäre am 22. September 1998 sechzig Jahre alt geworden.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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