Eine Rezension von Bertram G. Bock


Ein Weg aus der Enge

Madeleine Bourdouxhe: Auf der Suche nach Marie

Roman.

Aus dem Französischen von Monika Schlitzer, mit einem Nachwort von Faith Evans.

R. Piper, München 1998, 186 S.

In manchen Büchern findet sich hin und wieder ein Satz oder ein kleiner Abschnitt, der, wie unscheinbar oder banal er auch sein mag, das Buch zusammenfaßt, erklärt. In so einem Satz steckten dann nicht nur der gesamte Inhalt, die gesamte Geschichte, sondern auch alle Stimmungen, die ganzen Gefühlslagen. Im vorliegenden Fall ist der Satz recht einfach, steht auf Seite 150, spricht eine altbekannte Wahrheit aus und darf doch als der Schlüsselsatz des Romans gesehen werden: „Und plötzlich erscheint ein Name auf einem Blechschild - die ganze geballte Kraft der Wirklichkeit.“ Das Blechschild steht auf einem Bahnhof und trägt den Namen einer französischen Stadt, die dem Leser unbekannt bleibt. Aber nicht die Stadt ist für Marie interessant, sondern der junge Mensch, der sie dort abholt, mit dem sie die für sie fremde Stadt besichtigt, mit dem sie später essen gehen wird, und noch später wird er sie nicht nur in die Arme nehmen. Nach der ersten Umarmung im Zimmer des jungen Mannes: „Und sie sprechen miteinander, wie zwei Menschen, die einander erst in diesem Moment wiedergetroffen haben.“ So lautet der bewußt zweideutig gehaltene Satz nach jener ersten Wiederberührung. Es ist ihr heimlicher, ca. 20jähriger Liebhaber, den die dreißigjährige Marie hier trifft und liebt und den sie nicht nur vor ihrem Ehemann Jean, sondern auch vor ihrer Schwester Claude und dem Rest der Verwandtschaft geheimhalten will und kann. Kennengelernt haben sie sich Monate vorher im Urlaub am Meer. Plötzlich war Maries Blick am Strand auf den jungen, schönen Mann gefallen - ein Student, wie sich später herausstellt -, der ihre vorsichtigen Blicke erwidert. Tage später treffen sie sich gewollt zufällig, er, der namenlos bleibt, gibt Marie seine Telefonnummer. Zurück in Paris, ist der Ehealltag bald wieder im Trott - und doch eher nicht. Die Begegnung hat Marie innerlich aufgewühlt, aufgerüttelt, sie liebt Jean und sehnt sich nach dem jungen Mann und : „Marie erwartet Marie.“

Mit diesem Satz markiert die Autorin Madeleine Bourdouxhe den Beginn des Aufbruches der Reise nach Innen ihrer Protagonistin. Was jetzt folgt sind die ersten Schritte, die ersten Überwindungen und Übertretungen Maries, weg von ihrer inneren Stille, von ihrem Trott, hin zu den Wünschen und dem Begehren des Ichs, hin zu eigenem und eigenbestimmtem Leben. Heute eigentlich schon eine Selbstverständlichkeit - doch für Madeleine Bourdouxhe damals nicht. 1906 in Lüttich geboren, schrieb sie ihren ersten Roman, Gilles Frau betitelt, der 1937 - kurz vor dem Zweiten Weltkrieg - in Paris erschien (deutsch dann 1997). Marie der zweite Roman, wurde 1943 in Frankreich publiziert und jetzt, 55 Jahre später, auch in Deutschland. Es überrascht, daß dieser Roman wie auch die anderen Arbeiten der Autorin, die 1996 starb, so lange unbeachtet blieben. Nicht so sehr die Story an sich ist es, sondern der Umgang der Autorin mit ihrer weiblichen Heldin. Inwieweit die eigene Biographie mit eingeflossen ist, sei dahingestellt, eindeutige Hinweise fehlen. Marie emanzipiert sich, und das nicht etwa, weil ihr ein schöner, junger Mann über den Weg gelaufen ist, sondern weil sie spürt, daß etwas passieren muß. Die Träumerei am Fenster zu Beginn des Buches signalisiert Sehnsucht, der erste Versuch in ihrem Leben, ein Boot zu rudern und zu steuern signalisiert Neugier auf Unbekanntes, signalisiert Mut. Daß dann der Student zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, die Sehnsucht kanalisiert wird, ist nicht zwingend schlüssig, aber eine Möglichkeit.

Marie, und das macht sie als Protagonistin überaus sympathisch, wird von ihrer Autorin im Verlauf des Romans sehr differenziert gezeichnet und entwickelt. Da ist nicht zu Beginn die „Initialzündung“ und die Entwicklung nimmt ihren Lauf, sondern Zweifel, das Festhalten an Überkommenem, der Rückzug in und zu Altbekanntem sind ebenso Thema. Wenn Marie ihre Eltern besucht, alte Geschichten mit ihnen aufwärmt, ist dem Leser überdeutlich, wie sehr Marie gerade dort versucht, Halt zu finden, in die eigene Geschichte zurückzukehren. Aber sie weiß gut genug, daß es nur eine Verschnaufpause sein kann, denn wenn sie ehrlich zu sich sein will, dann muß sie den Weg gehen, den sie, nicht leichtsinnig, eingeschlagen hat. Zögernd zwar, aber entschlossen, trifft sie sich mit dem jungen Mann. Sie lieben sich, erleben sich außer Zeit und Raum. Die Erfüllung einer Sehnsucht, die Jean ihr nicht mehr bieten kann, obwohl sie ihn weiterhin liebt - aber es ist in den sechs Jahren ihrer Ehe eine andere Liebe geworden, eine Art Freundschaft, die sie nicht zu benennen weiß. Bevor Jean aus beruflichen Gründen Paris für mehrere Monate verlassen muß, zieht sie mit ihm nach Maubeuge in das Haus ihrer Schwiegereltern. Ein harter Schnitt. Noch bevor der Alltag wirklich eingerichtet ist, ist klar, daß sie sich da nie wird wohl fühlen können. Der Suizidversuch der Schwester, die weiterhin in Paris lebt, ist somit tragischer, aber willkommener Grund, Maubeuge sofort zu verlassen. „Wenn Frauen sich in die Enge getrieben fühlen, wenn sie zu sehr leiden, ziehen sie sich stillschweigend aus der Affäre. Sie stehlen sich davon - ins Nichts, in der Hoffnung, Frieden zu finden.“ Diese Reflexion auf der überstürzten Fahrt nach Paris deutet ein mögliches weibliches Konzept an, welches Marie aber zu durchbrechen weiß. Claudes Grund für den Suizidversuch - „Ich habe mich so alleine gefühlt“ - trifft zwar auch für Maries Ehe mit Jean zu, aber für sie gibt es immer noch den Weg nach vorne. Als Marie einen Tag in Paris weilt und ihren Freund wiedersieht, empfängt sie die „geballte Kraft der Wirklichkeit“, ihre Liebe, ihre Sehnsucht sind wahr.

Das Ende des Romans bleibt offen. Zurück in Paris, will die Schwester wissen, wo sie war, aber, so Marie: „Das Leben ist doch keine Geschichte, die man erzählen könnte.“

Der Titel des Romans erinnert - wohl von der Autorin nicht ungewollt - an das große Werk Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Und wenn sich auch die ein oder andere Parallele ziehen läßt - Orte, die Suche nach der eigenen Identität etc. -, so ist die größte Verwandtschaft beider Romane die Stimmung. Denn überaus feinfühlig, sehr genau schildert Bourdouxhe Stimmungslagen, zeichnet Situationen auf Straßen oder Plätzen nach und erreicht es, daß die Leser Marie sehr persönlich, aber auch zugleich distanziert begegnen können. Zwar wird der Großteil des Romans aus der Sicht Maries geschildert und „erlebt“, aber immer mal wieder wechselt die Autorin für kurze Momente die Erzählperspektive, eine Außensicht wird möglich. Ein kurzweiliger und lesenswerter Roman.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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