Eine Rezension von Bertram Gabriel


Panoptikum des Grauens

Sibylle Berg: Sex II

Roman.

Reclam Verlag, Leipzig 1998, 197 S.

Heute so richtig etwas schiefgelaufen? Heute einfach nur Ärger und Pech gehabt? Heute mal wieder so einen richtigen Frust wegen dieser Welt, dieser ganzen Sch ...? Dann ist SexII von Sibylle Berg nicht zu empfehlen oder vielleicht erst recht: Denn wenn jemand etwas schwarz sehen kann, wenn jemand aus einer netten kleinen und alltäglichen Begebenheit eine Katastrophe sich entwickeln lassen kann, dann sie. Und das am laufenden Band. Es wird gestorben und gemordet, es wird gequält und gelitten, es werden Hoffnungen und Illusionen zerstört, es wird aufgegeben und verlassen. Nein, so ganz absolut schlimm dann doch nicht, denn Berg streut in ihren Roman GgdW’s ein, Geschichten gegen den Wahnsinn, wie sich die Abkürzung aufschlüsseln läßt. Aber, ehrlich gesagt, viel können sie dann doch nicht ausrichten, das Negative, das Häßliche, das Verlorene überwiegt einerseits, andererseits sind GgdW’s auch nicht immer gerade aufbauend oder positiv.

Starr und schematisch ist der Roman aufgebaut, was, vorweg sei es schon gesagt, ihn durchgehend strukturiert, aber nicht einengt, einzwängt oder gar abschnürt. Eine Uhrzeit wird zu Beginn eines jeden Kapitelchens konkret angegeben, darunter folgt ein Personenname, die Altersangabe und zwei bis vier Zeilen Text, die die Person knapp beschreiben. Jetzt erst der „eigentliche“ Text, eine Episode, ein Moment aus deren Leben. Es folgt die nächste Person, zeitlich meist nur wenige Minuten später, die aber zudem in dem vorausgegangenen Text in irgendeiner Weise vorgekommen ist, entweder als direkter Gegenspieler, als vorbeilaufender Passant oder in sonst irgendeiner Rolle. Somit sind alle Texte miteinander verbunden, erhalten nicht nur über die Zeitschiene (Dauer: ein Tag und eine Nacht) eine innere Verbindung, eine Angleichung. Dazwischen immer wieder: „Ich, 33. Normal schlechte Kindheit, normal aussehend, normal alleine, normal übersättigt. Ein ganz normales Arschloch“, was natürlich so nicht stimmt. Das weibliche Ich, welches auch die GgdW’s einstreut, berichtet von sich, ihrem Tag, dessen Ablauf fragmentarisch bleibt, was aufgrund der Romanstruktur konsequent ist. Ist es eine ausufernde Phantasie, ist es eine psychische Erkrankung, ist es eine (über)hohe Sensibilität, die das „Ich“ den Tag z. T. absurd, z. T. träumerisch-halluzinatorisch erleben läßt? Die Texte sprechen überwiegend von Ängsten, von dem Haß auf die Stadt, von der Verlogenheit der Gesellschaft - Kritik durch Anklage, aber außer Träumen und Vorstellungen keine anderen Verbesserungsvorschläge, Lösungsansätze, Ideen. Nichts Gutes wird an dem Dasein gelassen, hier und da zwar ein schöner, ein sinnlicher Moment - doch diese wenigen zählen letztendlich nicht, sie werden zugeschüttet von all den anderen Erfahrungen und Erlebnissen. Und auch das sich anbahnende Verhältnis zu einem Mann, das gemeinsame Erleben, findet - sozusagen erwartungsgemäß schon - sein abruptes, brutales Ende: „5.21 Uhr. Ich. / Stehe am Rande der Fahrbahn. Ein Auto erfaßt ihn, reißt seinen Kopf vom Rumpf, wo ist der Kopf, was bleibt, ist sein Körper, mit einem Rand oben, sein Körper, der mich eben noch gehalten hat ...“

Neben dem Ich tauchen Dutzende anderer Personen auf, Frauen wie Männer, alte wie junge, aller Gesellschaftsschichten. Ein Querschnitt durch die Gesellschaft, ein Panoptikum des Grauens, der Brutalität. Direkt noch von der leichteren Sorte beispielsweise Norbert, 39, der sein Auto als Waffe benutzt und eine Frau umfährt - und sich daran ergötzt. Oder Knut, 18, der seinen prachtvollen jungen Körper bewundert, mit seiner männlichen Potenz Geld verdient - alles nur Phantasie, ist er doch querschnittsgelähmt. Und so geht es fort und fort: Sabine, 35, die sich kurzentschlossen ein Messer in den Leib rammt; Pia, 15, die von drei Jungen vergewaltigt wird; Rudolph 70, der den Strichjungen Benno qualvoll verstümmelt ... der Grausamkeiten sind viele. Alle diese Texte, diese Episoden beginnen unscheinbar, nebensächlich und fast gleichgültig. Leseerwartungen werden erst erfüllt, doch dann fokussiert Berg, eine Handlung, eine Tatsache wird mit bitterer Konsequenz zu Ende gesehen bzw. geführt - oft genug steht der Tod dann da oder die Einsamkeit. Sprachlich präzise, eher kalt und klar kommen die Texte daher. Die meist parataktischen Reihungen inszenieren emotionale Distanz, aber einen tiefen Blick in die menschlichen Seelen(qualen), in die innere Einsamkeit.

Gerade die Einsamkeit ist es, die an keiner Stelle, selbst bei der beginnenden Beziehung der Ich-Figur, durchbrochen wird. Auch wenn die Menschen miteinander in Beziehung treten, was strukturell vom Roman ja auch noch unterstützt wird, so bleibt es aber bei der Einsamkeit des einzelnen. Selbst intimste Begegnungen sind Geschäfte oder beruhen auf Abhängigkeitsstrukturen, ein Gemeinsames gibt es nicht. Auch die Selbstbefriedigung als Eigenliebe, als Zeichen der Ich-Bezogenheit, ist meist nur rudimentär ausgebildet: „Onaniert selten. Dauert zu lange“, heißt es einmal, oder auch: „Onaniert, wenn auch gelangweilt.“ Bezugslosigkeit ist das Stichwort dazu, Form und Inhalt des Romans im Widerspruch, Aufruf zum Gegenentwurf?

Das interessant gestaltete Buch - schmal, so auch schmaler Satzspiegel; Fotos von Jules Spinatsch; zwei verschiedene Schrifttypen; Paginierung nur auf einer Seite - ist zugleich auch ein Blick auf die Jetztzeit, die Sibylle Berg sehr kritisch und ohne jede Hoffnung sieht. Diese negative Bestandsaufnahme der Wirklichkeit, die einseitig ist und es auch sein will, kann zu vielem produktiv gebraucht werden, und sei es nur zur Versicherung, daß diese Welt die schlechteste aller Welten ist.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite