Eine Rezension von Cristina Tudoricá


Auf der Suche nach dem verlorenen Ich

Carmen-Francesca Banciu: Vaterflucht

Roman.

Verlag Volk und Welt, Berlin 1998, 155 S.

„Ich war noch lange nicht zehn. Sah ihn, wie er den Schlitten hinter sich herzog. Wie er mich an sich zog. Ein Band, ein Seil zwischen uns. Er zog. Zwischen uns blieb immer die gleiche Entfernung.“ Diese Metapher enthält die Quintessenz der Erzählung: Die Tochter ist auf der Flucht, auf der Vater-Flucht, und jegliche Annäherung ist unmöglich.

Die Geschichte ist als Kombination von Rückblenden aufgebaut, zwischen die - leicht abgewandelt - regelmäßig ein und dasselbe Moment der Gegenwart eingeschoben wird, nämlich das Bild des Vaters, der seine seit sieben Jahren im Westen lebende Tochter bei ihrer ersten Rückkehr nach Rumänien erwartet: „Er steht am Bahnhof in seinem alten Ledermantel, mit seiner kirgisischen Astrachanmütze, und wartet auf mich. Seine Lippen wie Scherenblätter.“ Die Vergegenwärtigung des Vaters ist Ausdruck einer Obsession, die das gesamte Leben der Erzählerin leitmotivisch durchzieht und auch Anlaß der niedergeschriebenen Erfahrungen ist. Denn das Ziel der hier aufgerollten, vom Ich als frustrierend und schmerzhaft empfundenen Erfahrungen einer gequälten Kindheit und Jugend ist eindeutig die Befreiung von der belastenden und erdrückenden Präsenz des Vaters. Dieser Versuch mißlingt, denn am Ende stehen sich, wie ständig zuvor, zwei fremde Menschen gegenüber, deren Ansichten grundverschieden sind und die sich eigentlich nichts zu sagen haben: „Vater mit seiner Pelzmütze. Mit gläsernen Augen. Er hat sein Leben lang gearbeitet und sich geopfert. Für mich. Für die Familie. Für das Vaterland. Für den Kommunismus. Alles ist anders gekommen. Mutter ist längst gestorben. Die Karriere verloren. Das Vaterland in Elend versunken. Der Kommunismus zusammengebrochen. Seine Träume zerstoben. [...] Ich habe Rumänien verlassen. Verraten. Lebe im Ausland. Damit mußte Vater auch fertig werden.“

Das Leben der Frau, die über ihre Erfahrungen berichtet, scheint sich im Zeichen von Minderwertigkeitskomplexen entwickelt zu haben, die aus zu hohen Ansprüchen der Eltern an die Tochter erwachsen sind. „Nichts taugst du. Nichts wird jemals aus dir.“ So die häufig wiederholte Mahnung des Vaters, die auf die Kernproblematik des Buches hinweist.

Vater und Mutter haben eine privilegierte Stellung in der Gesellschaft. Sie sind überzeugte Parteileute. Im Sinne parteinaher Ideale wird auch das Kind erzogen. Zusätzlich erhält es Klavier-, Violin-, Ballett- und Fremdsprachenunterricht, besitzt Tiere, die es pflegen muß, damit es früh lernt, Verantwortung zu übernehmen. Zum Spielen bleibt dann keine Zeit mehr, denn bedingt durch das gesellschaftliche und berufliche Engagement der Eltern ist das Mädchen fast nur alleine und muß schon als Kind - die genauen Anweisungen von Vater und Mutter befolgend - verschiedenen häuslichen Pflichten nachgehen.

Die strenge Erziehung scheint in dem Wunsch, dem Kind vielfältige Möglichkeiten und eine aussichtsreiche Zukunft zu bieten, eine Rechtfertigung zu finden: „Denn jeder liegt, wie er sich bettet. Und meine Eltern würden sich für mich opfern. Damit ich es später im Leben besser haben würde als sie. Denn für sie hätte sich ja keiner so geopfert. Sie mußten aus eigener Kraft etwas werden. Und keiner hätte für sie nur einen Pfennig ausgegeben, damit sie was lernen könnten. Damit sie sich bilden. Damit.“

Später zeigt sich, daß die strenge Erziehung gefruchtet hat, jedoch anders, als erwartet: „Ich war nicht einmal sechzehn, als alles anfing. Meine schulischen Leistungen waren damals noch gut. Meine Begabungen vielseitig. Ich galt als Wunderkind, sprach mehrere Sprachen fließend. Ich war selbstbewußt, hatte eigene Ansichten, die ich auch verteidigte.“ Es ist der Mut zur selbständigen Meinung, der der jungen Erwachsenen zum Verhängnis wird. Denn sie weigert sich, im Internat ihre Kolleginnen zu bespitzeln.

Zwei Jahre später beginnt sie das Studium der byzantinischen Kirchenmalerei - „Ohne die Genehmigung meiner Eltern. Ohne den Segen der Partei“ (115) - und schreibt an einem Roman, einem „Dialog zwischen einem West- und einem Ostkommunisten“. Ihre regimekritischen Einstellungen und Absichten äußern sich darin, daß sie die Zeitung über Mißstände informieren und eine Demonstration organisieren will. Als sie jemand verrät, fängt eine dreimonatige Zeit der Verhöre an, in der sie intimste Aufzeichnungen und Korrespondenz offenlegen muß und gezwungen wird, diese bis ins Detail zu erläutern. Diese ernüchternde Erfahrung löst bei ihr und auch beim Vater, der für die Erziehung seiner Tochter zur Verantwortung gezogen wird, Bestürzung und Ratlosigkeit aus. Für jeden bricht eine, das heißt seine, Welt zusammen.

So „rumänienspezifisch“ die Problematik dieses Buches auf den ersten Blick auch erscheinen mag, sei davor gewarnt, die hier geschilderten Erfahrungen auf ein Land und eine Epoche zu übertragen und ihnen einen verallgemeinernden Charakter für die Generation der Hauptgestalt zuzuschreiben. Die systembedingten Einengungen bleiben nur an der Oberfläche und stellen - sozusagen - den Rahmen des Geschehens dar. Das eigentliche Thema der Erzählung ist ein persönlicher Konflikt, nämlich die Auseinandersetzung der Tochter mit ihrem willensstarken, strengen Vater, gegen dessen Erziehungszwänge sie rebelliert und dessen Spuren sie nicht einmal Jahre später aus ihrer Persönlichkeit tilgen kann.

Die Erfahrungen der Ich-Figur sind unverkennbarer Ausdruck des Vorwurfs gegen eine lieblose Kindheit, gegen abwesende Geborgenheit, sie sind eine verspätete Anklage gegen den Mangel an Sensibilität auf der Seite der Eltern: „Man hat mit uns Kindern nie über Liebe gesprochen. Sondern nur über Pflichten und darüber, daß man sich nützlich machen muß. Man machte sich nützlich, indem man liebte. Was für eine Verwirrung. Irgendwie war es doch anders. Es ging nicht um die eigene Liebe. Und ihre selbstsüchtige Erfüllung. Es ging um die anderen. Es ging um das Etwas-geben-Können. Man selbst kam dabei gar nicht vor. Vielleicht war das ja jenes Sichaufopfern, von dem meine Eltern und ihresgleichen immer sprachen.“

Die Schwierigkeiten der Ich-Figur in der Bewältigung der eigenen Vergangenheit scheinen gerade darin zu liegen, daß sie den Grund für unglückliche Erfahrungen in den Unzulänglichkeiten des sozialistischen Systems sucht. Selbst häufige Anspielungen auf geschichtliche Episoden, wie zum Beispiel die Abdankung des Königs (S. 17, 23), Jalta (S. 85), Deportationen (S. 39), Gebietsverluste in Bessarabien und der Bukowina (S. 49) etc. sind viel zu oberflächlich und kaum kontextbezogen, so daß man keine Verbindung zwischen dem Einzelschicksal und den historischen Gegebenheiten herstellen kann.

Selbst Werte, über die sich die rumänische Kultur im weitesten Sinne definiert, werden durch die sozialistische Optik betrachtet und abschätzig zu bloßen Hüllen degradiert: „Alles wurde rumänisch und hatte seine Specific National. Dor, die Sehnsucht aus den Balladen und aus den traurigen rumänischen Volksliedern, den Doinen, war spezifisch rumänisch. Das Wort Dor benannte ein Gefühl, das nur die Rumänen kannten. [...]“ (S. 56)

Dabei ist es wohl möglich - die Romane Marin Predas (von denen in deutscher Übersetzung - die viele Jahre zurückliegt und längst vergriffen ist - leider nur Der große Wahnsinn vorliegt) beweisen es überzeugend und mit aller Deutlichkeit - zerstörerische Einflüsse einer Gesellschaftsordnung als unausweichliche existentielle Koordinaten, die das Leben einer gesamten Generation geprägt haben, in ihrem gesamten Ausmaß und mit den dazugehörenden Implikationen anhand von Einzelschicksalen zu veranschaulichen. Was den Begriff „dor“ angeht, so hat der rumänische Philosoph Lucian Blaga diesem unübersetzbaren Wort einen Essay gewidmet, gerade weil es „spezifisch“ ist.

Eine Schwäche des Textes liegt in der Häufigkeit der Redundanzen, die oft ihr Ziel, etwas bereits Gesagtes zu betonen oder in Erinnerung zu rufen, verfehlen und den Erzählfluß eher aufhalten als vorantreiben.

Nicht nur der Kenner der rumänischen Sprache wird über die auffällige Inkonsequenz in der Orthographie der rumänischen Wörter und Begriffe staunen, vor allem weil im Text selbst auf die Feinheiten der Schreibung eingegangen wird: „Großmutter war es egal, ob man Romînia oder România schreibt. Wenn man es sowieso gleich ausspricht. Egal, ob man es mit â aus dem a von Roma schreibt und damit an die lateinischen Wurzeln anzukoppeln versucht. Oder es mit dem î scheibt, wie es die Russen tun, um die angeblichen slawischen Wurzeln Rumäniens auszudrücken.“ (S. 55) In solchen und ähnlichen Fällen vermißt man eine ergänzende Erklärung in Form einer Übersetzung oder einer Erläuterung.

Trotzdem wird das Buch - vor allem für den westlichen Leser - keine uninteressante Lektüre sein, einerseits weil es mit einer eher ungewöhnlichen Problematik konfrontiert, die seit einigen Jahren auch in Osteuropa zu einer untergegangenen Welt gehört, andererseits weil es mögliche Anregungen für weitere literarische oder geschichtliche Entdeckungsreisen zu vermitteln vermag.

In der Haltung der schreibenden Erzählerin wird man deutlich den Anspruch auf politische Freiheit und Wirksamkeit erkennen, mit denen sie politische Unfreiheiten bekämpfen und aus der Welt schaffen will. Sie scheitert in diesem Unterfangen, weil ihr gerade diese Art von Freiheit verwehrt bleibt. Das ist eine traurige Erkenntnis und eine schmerzhafte Erfahrung. Gerade dieses Scheitern erinnert aber an andere Formen von Freiheit, die in der damaligen Zeit und unter den damaligen Umständen zwar schwieriger zugänglich waren, jedoch dem Zweck des inneren Widerstands und der Aufrechterhaltung menschlicher Würde in einem totalitären System auf eine Weise dienten, die sich als dauerhafter und wirksamer erwies.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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