Eine Rezension von Helmut Hirsch


„Ich werde Sie nicht begleiten“

Rainer Maria Rilke - Lally Horstmann: Eine Begegnung in Val-Mont

Herausgegeben von Ursula Voß.

Insel Verlag, Frankfurt/M. und Leipzig 1996, 80 S. (Inselbücherei Nr. 1169)

Der Dichter und lyrische Erzähler Rainer Maria Rilke hat außerordentlich viele Briefe geschrieben. Sie sind, da sehr unmittelbar, überaus authentische Zeugnisse seines Dichtens und seiner Biographie. Leser und Autoren, Freunde und Gegner des Dichters haben mit Bewunderung oder Ironie von diesen Briefen gesprochen. Man hat sie als Reliquien aufgehoben, sie als Objekte der Versteigerung auf den Markt gebracht. Das Briefwerk, wie es heute lückenlos vorliegt - wenn nicht noch etwas aus verborgenen Schatullen auftauchen sollte-, erlaubt einen umfassenden Einblick in Rilkes Lebenszusammenhänge und seinen Entwicklungsgang. Die Briefe sind Medium der Mitteilung an andere, zugleich Reflexion über sich selbst. Ihrer bedient sich mit Eifer oder Akribie die Literatur- und Kunstkritik. Für Rilke, der nicht pausenlos Gedichte schrieb, waren die Briefe auch wichtig, um schöpferische Pausen zu überbrücken. Auch läßt sich in ihnen erkennen, was es für Vorstufen, Keime zu neuen Werken gab. Notizen zu künftigen Dichtungen, auch das sind seine Briefe.

„Zu Dir sprechen ist In-sich-gehen“, schrieb er einmal einer Briefpartnerin; gegenüber dem Dichter Paul Zech gebrauchte er die Formel „Uns einander fühlbarer zu machen“, wenn der Brief Aufschlüsse über seinen Adressaten und Absender zugleich geben sollte. An die verehrte Freundin und Malerin Paula Modersohn-Becker benutzte er die Wendung „Briefe sind Abendstunden“.

In einem Brief an den Verleger des Leipziger Insel Verlages, Anton Kippenberg, nennt er die Briefe als ganz und gar herausgehoben, er befinde sich damit im „Vorraum der Innerlichkeit“. Kein Wunder, daß viele Verehrer die Briefe den Dichtungen gleichstellten, denn er verstand es, auch ganz einfache Momente des Alltags, Beobachtungen unter Menschen und Erscheinungen in der Natur im Brief prägnant festzuhalten.

Die Briefe an Lally Horstmann, die in einer reizvollen Edition in der Inselbücherei vorliegen, sind von knapper Schönheit, sehr sparsam in der jeweiligen Mitteilung, freundlich-höflich, und gelegentlich auch ironisch. Kennengelernt hatte Rilke die junge Frau während des Ersten Weltkrieges in Berlin. 1926, Rilke befindet sich, wieder mal stärker kränkelnd, im Sanatorium zu Val-Mont. Und zufällig trifft er dort auf Frau Horstmann. Man spaziert miteinander, spricht über Poesie und Welt, erinnert Vergangenes. Erhalten sind nur die Briefe, die Rilke schrieb. Er nennt es „die erste authentische Freude, zu wissen, daß Sie hier sind, in Val-Mont, und sich meiner - trotz so geringer und flüchtiger persönlicher Gegebenheiten - gütig erinnern.“ Dieser schwebend leichte Ton, mit dem die Briefe beginnen, setzt sich fort während der gesamten Zeit, vom 11. März bis zum 19. Juni 1926. Rilke gibt sich charmant, zugleich auch schüchtern-kokettierend. Einmal hofft er, noch „selbst kurz nach sechs ... an Ihrer Thür kopfen“ zu dürfen. Auch Literatur ist Gegenstand der Gespräche, schimmert periodisch in Rilkes Briefen auf. Er schätzt den Franzosen Jean Giraudoux, einer, der nach Rilkes Meinung die Feder „wie einen Zauberstab“ zu gebrauchen verstand. „Und“, setzt er auch selbstredend hinzu, „man erfährt, was aus dem dichten und undurchlässigen Stoff einer politischen Zeit werden kann, wenn ihn ein Dichter, spielend, auf der magischen Ebene verteilt, auf der wir in Wirklichkeit leben.“ Immerzu schwingt diese „magische Ebene“ in diesen Briefen, sie ist Reflex auf reizvolle, nicht unerotische Begegnungen mit Lally Horstmann, die, betrachtet man ihr Foto, von herber, aber exotischer Ausstrahlung gewesen sein muß.

Manchmal spricht er zu viel, nimmt im Brief sofort darauf Bezug: „Daß ich Sie gestern durch zu vieles und zu langes Reden ermüdet habe. Ich hab es mir strenge, strengstens vorgehalten.“ Gern berichtet er von seiner Lektüre, zieht sich einmal gleich hinter drei Bücher zurück. Auch legt er dem Brief mal ein Buch, das er empfiehlt, bei. Dann ist er unpäßlich, versteht dies aber humorvoll gleich in die Anrede einzuschmelzen: „Ich werde Sie nicht begleiten, liebe Gnädigste Freundin: mein Zeigefinger weist nicht um die Ecke (wie Ihr kleines ,Nahe‘-Rohr), ich könnte Ihnen doch nur ein schräges Wallis zeigen, vom Zug aus ...“

Gerade hat der Leser Vergnügen an den etwas ausführlicheren Briefen Rilkes gefunden, Bücher über Bücher, Ausgaben, Seltenheiten, Einblicke und Erfahrungen wechseln einander ab, da ist das Vergnügen auch schon am Endpunkt angelangt. Rilke beabsichtigt, wieder in das Turmhaus in Muzot zu ziehen, macht aber noch auf Valérys Narziss-Fragmente aufmerksam, die er übersetzt hat. Abgehalten wird er stets vom Wetter, von der gar zu intensiven Korrespondenz. Noch ein paar Namen, Orte (Weimar), Erfreulichkeiten: „Daß es Ihnen gut geht, ist mir eine wahre und lebhafte Freude!“ Und ganz Abschied, der ja auch bevorsteht, fügt er hinzu: „Wenn ich überlege, was mir Val-Mont eingetragen hat, fällt mir immer vor Allem das Glückliche unserer Begegnung ein, der reiche große Gewinn Ihrer Freundschaft, und wie ich nun durch Sie an einige ältere Freunde ... umso lebhafter wieder angeschlossen bin. Bleibt es für Sie bei der pariser Reise? Ich wünsche es Ihnen so sehr. Leben Sie wohl, leider weder Sommer, Sonne noch Wärme, aber manche Freude trotzdem! Ihr Rilke.“

Wie schön für den Leser, daß es damit noch nicht vorbei ist. Denn Lally Horstmann hat sich an jene Tage erinnert, und sie hat dies aufgeschrieben. Das ist der zweite Teil dieser Begegnung, auch reizvoll. Geschrieben hat sie es kurz vor ihrem Tod 1954, und noch einmal erinnert sie die vielen, teilweise endlosen Monologe Rilkes über Literatur und Dichter. Allerdings wirkt ihr Text thematisch etwas verdrängend, sie beschreibt mehr noch die wundersame Erscheinung Rilkes, wie er regelmäßig nachmittags an ihre Türe klopfte, der plötzliche Blick ins Gesicht, wie ein Bild, leicht vergoldet: „Da stand Rilke. Schmächtig gebaut, der schmale Schädel ziemlich lang für seinen Körper. Ein blonder, an den Enden herabfallender Schnurrbart bedeckte halb seinen Mund, die üppige Unterlippe freilassend. Eine seiner schlanken, knochigen und nervösen Hände berührte das silberne Kreuz, das er gewöhnlich unter seinem Jackett verbarg; es hing an einer Uhrkette über der Weste, dicht am Herzen. In seinen großen, leicht hervortretenden blauen Augen lag ein Ausdruck freudiger Überraschung, als er das tanzende Feuer sah. Er hatte mir ein paar Bücher zur Auswahl mitgebracht, da er ja nicht wußte, was mir gefallen würde, darunter die ersten beiden Bände von Marcel Proust, und fing an, sich darüber auszulassen.“

Beeindruckt war Lally Horstmann von der Person Rilkes, aber noch mehr von Rilkes Schilderungen seiner Qualen, immerhin seinerzeit schon tödlich getroffen.

Mag das Erlebnis durch die Jahre ein wenig verschwommen sein, Lally Horstmanns Berichte jener Tage geben doch ein atmosphärisches Bild dieser Begegnung, freilich keine neue Facette im Bild des Dichters Rilke.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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