Eine Rezension von Helmut Hirsch


„Keiner soll sich selber stockblind machen“

Jakob Böhme: Wege zum wahren Selbst

Aus den Schriften des Mystikers und Theosophen.

Herausgegeben und eingeleitet von Gerhard Wehr.

Insel Verlag, Frankfurt/M. und Leipzig 1996, Insel-Bücherei Nr. 1164, 64 S.

Er war einer der größten Autodidakten unter den Philosophen: Jakob Böhme. Der 1575 geborene Sohn begüteter Eltern erlernte das Schuhmacherhandwerk und ließ sich nach bewegten Wanderjahren 1599 in Görlitz nieder. Reformation, Bauernkrieg und der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, das waren drei gewichtige historische Geschehnisse, die Leben und Denken Jakob Böhmes beeinflußten. Er ist vielfach seiner Wortgewalt wegen mit Luther verglichen worden, an Ausdruckskraft hat er diesen wohl mitunter noch übertroffen. Sein umfangreichstes Werk trägt den Titel Aurora oder Morgenröte im Aufgang, das Böhme in der erstaunlich kurzen Zeit von Anfang Januar bis Pfingsten 1612 schrieb. Zunächst nur zur Selbstverständigung gedacht, erreichte das Werk später eine große Berühmtheit. Das darin entworfene Gedankengebäude und kritische Weltbild erregte die örtliche Geistlichkeit derart, daß man ihm verbot, künftighin Bücher zu schreiben. Doch Böhme, viel zu vital und wortwillig, hielt sich nicht an das Verbot, verfaßte seit 1619 bis zu seinem Tode (1624) weitere Schriften, getrieben von Zweifeln an der Gültigkeit der protestantischen Lehre. Bedeutende Köpfe haben sich mit Böhmes Texten beschäftigt. Von Schelling z. Bsp. gibt es den Satz: „Man kann nicht umhin, von Jakob Böhme zu sagen, er sei eine Wundererscheinung in der Geschichte der Menschheit und besonders in der Geschichte des deutschen Geistes.“

Böhmes Ringen mit der Sprache ist immer ein Ringen um Welträume, innen wie außen. Im Mittelpunkt steht bei ihm nicht Gott, auch wenn der Name sehr oft genannt wird, sondern immer der Mensch. Das macht sein Werk auch problematisch, es kann ausgelegt werden nach verschiedenen Seiten. Er selbst hat sein Gedankensystem einmal so zusammengefaßt: „Also verstehets endlich in dem Wege! Gott ist selber Alles und in Allem; aber er gehet aus dem Grimm aus, und findet die Licht- und Kraft-Welt in sich selber, er machet sie selber, daß also der Grimm in allen Gestalten nur eine Ursache des Lebens (und sich selber in großen Wundern finden) sei ... Unser ganzes Schreiben und Lehren langet nur dahin, wie wir uns müssen selber suchen, machen und endlich finden.“

Dieses Sich-selber-Suchen ist auch der Ansatz für die kleine Auswahl seiner Schriften in der Inselbücherei. Die „Hinführung“ (das Vorwort) des Herausgebers geht von der allgemeinen spirituellen Tradition aus, versucht unsicheren Menschen in unserer Zeit eine Art Hilfe zu geben mit den Worten Jakob Böhmes. Etwas blumig heißt es, der begierige, seine Ohnmacht abstreifende Leser könne hier „seelenaktiv erwerben“, was längst Besitz der Menschheit sei.

Die Auswahl der Texte versteht Gerhard Wehr als Bausteine innerhalb „einer großen esoterischen Tradition, die es aufs neue zu vergegenwärtigen gilt“.

Er empfiehlt die Texte unter dem Motto: „Suche dich und finde dich“, Wege zum wahren Selbst. Dies betrifft eins der vielen zentralen Themen Jakob Böhmes. Es geht um die „lebenslange Suche nach einer spirituell vertieften Selbst- und Welterkenntnis“, ein Thema für alle, besonders für schwierige Zeiten. Die Auswahl versucht den „ganzen Wirklichkeitskosmos“ Böhmes einzubeziehen. Das ist allerdings schwierig, denn gerade aus dem großen Werk der „Aurora“ hat der Herausgeber nur fünf kleine Notate beigesteuert. Seine Intention, Esoterik für den modernen, hilflosen Menschen vorzulegen, geht hier ganz eigene Wege. Schön ist diese stark verkürzte Bekanntschaft mit Böhmes Sätzen allemal. „Rechenschaft des Autors“ ist die einleitende Gruppe überschrieben. Jakob Böhme spricht: „Keiner soll sich selber stockblind machen, denn die Zeit der Wiederbringung, was der Mensch verloren hat, ist nunmehr vorhanden. Die Morgenröte bricht an; es ist Zeit, vom Schlafe aufzuwachen.“ Böhmes Sprache ist nicht leicht, aber man kann sich in sie einlesen. Und in diesem Punkt ist dem Herausgeber eine vortreffliche Auswahl gelungen, er verprellt den Leser (vielfach Neuling in diesem Böhme-Land) nicht, er zieht ihn fast magisch in die Texte hinein. Mit Böhme lernen wir, daß man Wissen nicht erst aus Buchstaben zusammentragen muß, „sondern ich habe den Buchstaben in mir“, und: „Wenn ich gleich kein ander Buch hätte als nur mein Buch, das ich selber bin, so hab ich Bücher g’nug. Liegt doch die ganze Bibel in mir.“

Wer das liest, muß spüren, daß sich hier im Wort, im Satz etwas bewegt, das auch den Leser ganz emotional bewegt. In anhaltende Bewegung versetzt, die kosmische Dimensionen erreicht. Es geht eine große Verführung von diesen Worten aus, denn sie sind ganz unmittelbar an jeden neugierigen Leser gerichtet: „Und ihr, meine lieben Brüder, seid alle meine Buchstaben, die ich in mir lese.“

Böhmes Sprache setzt Rätsel und strebt deren Auflösung an. Das kann auch mühevoll werden. Doch die ausdrucksvolle Bildsprache läßt es zu, in die Texte regelrecht hineinzugehen, einzusteigen. Böhme bietet keine Gedankenbestimmungen, wie die meisten Philosophen vor ihm und nach ihm, er wählt sinnliche Bestimmungen. Seine Qualitäten nennt er Herb, Süß, Bitter, Grimmig. Empfindungen werden mit Zorn, Liebe, Tinktur, Blitz, Essenz oder Merkurius bezeichnet. Hegel nannte das eine „ungeheure barbarische Kraft“, und man muß die Wort- und Sinn-Energien ganz allmählich in sich aufnehmen, um den Gang des Ganzen zu verstehen. So gibt es bei Böhme zum Beispiel einen „schielenden Blitz“, gemeint ist damit ein Blick, ein plötzlicher Blick, auch Geistesblitz, mit dem Wesentliches erfaßt oder ausgedrückt werden kann.

Man hätte sich für diese Ausgabe ein paar solcher Erklärungen im Anhang gern gewünscht. Denn die Texte sind sowohl einfach und zugleich kompliziert, schwierig schwingend und kosmisch schlagend. Allemal anregend und anziehend wie das Wort eines Magiers.

Wortgruppen wie Tugend, Treiben und Herkommen stehen im Kontext so, daß sie entschlüsselbar sind. Die Sinne der Vernunft sind aufgerufen, denn nur sie kann bändigen, was in „Kreaturen, in Erden, Steinen, Bäumen, Kräutern, in allen bewegenden und unbewegenden Dingen“ vor sich geht. Selbst- und Welterkenntnis gehören sinnlich und bildlich zusammen. Hier läßt es sich gut und nachsinnend einrichten, die Stufen eines kosmischen Prozesses nachzuvollziehen. Adam und Eva werden in Beziehung zu Christus gesehen. Christus wird „Schlangen-Treter“ genannt, der dem „gefallenen Menschen“ mitgegeben wurde; „ins jungfräuliche Centrum einvermählet und zu einem Gehilfen und Gefährten“ gemacht wurde.

Böhme führt und verführt durch lebendig vorgestellte Welten. Sinnliche Schichten sind es, die er als „hohe Geheimnisse“ dem Leser nahelegt. Also: Nicht viele Bücher lesen, um zu verstehen, denn mit Böhme ist „alles ein Tand ohne göttlichen Verstand, was die Vernunft in der Kunst dieser Welt suchet“.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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