Eine Rezension von Cathrin Chod


Überläufer aus Zelluloid

Holger Theuerkauf:

Goebbels’ Filmerbe

Das Geschäft mit unveröffentlichten UfA-Filmen.

Ullstein Verlag, Berlin 1998, 320 S.

April 1945: Die sowjetische Armee steht bereits in Wien und bereitet auch die Einnahme von Berlin vor, amerikanische Truppen haben Leipzig und Magdeburg eingenommen. Da spielt sich im Tiroler Zillertal eine surreale Szenerie ab: Ein Troß von Filmleuten zieht „mit den geschminkten Schauspielern an der Spitze geschäftig durch den Ort, hinaus in die Landschaft, und drehte was das Zeug hielt. Die Kamera surrte, die Silberblenden glänzten, der Regisseur befahl, die Schauspieler agierten, der Aufnahmeleiter tummelte sich, der Friseur überpuderte die Schminkgesichter, und die Dorfjugend staunte. Wie erstaunt wäre sie erst gewesen, wenn sie gewußt hätte, daß die Filmkassette der Kamera leer war! Rohfilm ist kostbar. Bluff genügt.“ Dieser Bericht von Erich Kästner über die „Dreharbeiten“ zu dem UfA-Film „Das gestohlene Gesicht“ schilderte durchaus keinen Einzelfall. Das Endstadium des Zweiten Weltkrieges bewog die gefeierten Schauspieler und Regisseure, eigentlich Hätschelkinder des Dritten Reiches zuallererst an die eigene Sicherheit zu denken. Regisseure und Filmarchitekten waren bis Kriegsschluß ganz emsig zu „Drehortbesichtigungen“ unterwegs. Willy Fritsch, Rudolf Foster und Emil Jannings erkrankten „plötzlich und langwierig“. Karl Schönböck und Victor de Kowa organisierten eine Theatertournee, die nie stattfand. Luise Ullrich kam nicht mehr aus Garmisch-Partenkirchen heraus, und Zarah Leander wußte die Sicherheit ihrer schwedischen Heimat zu schätzen. Vor dem Fall von Prag waren zudem die Barrandov Studios zum Geheimtip geworden, um dem Bombenterror in Deutschland zu entgehen. „Eine sogenannte Bombenangst wird man in kaum einem Fall nachweisen können“, mußte bereits Mitte 1944 ein Vertreter der Reichsfilmintendanz registrieren. So gaben beispielsweise Karl Ludwig Diehl und Gustav Diessl künstlerische Gründe an, um in Prag drehen zu können.

Nur wegen des außerordentlich hohen Stellenwerts, den insbesondere Josef Goebbels dem Film in der Massenbeeinflussung beimaß, wurde unter den genannten Bedingungen überhaupt noch in so großem Umfang gedreht. Immerhin befanden sich im November 1944 94 Filme (!) in der Endfertigung. Einige dieser Streifen konnten nicht mehr vollendet werden, andere fanden aus den unterschiedlichsten Gründen keine Gnade vor der Zensur.

Mosaikartig setzt Holger Theuerkauf das Bild der deutschen Filmproduktion in der Endphase des Dritten Reiches zusammen. Hauptsächlich widmet er sich dann einem bislang unterbelichteten Kapitel des deutschen Films. Denn was geschah mit den Zelluloidstreifen nach dem Krieg?

Die Sowjetunion betrachtete zunächst die eroberten Filme als legitimes Beutegut und übernahm so natürlich auch deren weitere Verwertung. Bald kamen viele Streifen wieder auf die Leinwand, oft ohne Angabe über die Herkunft. „Das Urheberrecht schien mit dem Potsdamer Abkommen außer Kraft gesetzt worden zu sein“, registriert der Autor.

Bereits Ende 1945 bereitete man in Babelsberg die Fertigstellung unvollendeter Ufa-Filme vor. Der erste Erfolg gelang mit der Rekonstruktion von „Die Fledermaus“, wohl einer der gelungensten deutschen Operettenfilme. Bei diesem Film, den der sowjetische Verleiher als ersten Film in deutscher Sprache in der SBZ zeigte, übertrafen die Einnahmen die Kosten um ein Mehrfaches. Sowohl die DEFA als auch westdeutsche Filmgesellschaften, wie die Bavaria, bedienten sich in der Folge recht ungeniert des „Filmerbes“ und konnten mit den Erlösen spätere eigene Produktionen finanzieren. In der Hauptsache handelte es sich bei den Überläufern um „reine“ Unterhaltungsfilme, da es ja von Goebbels als kriegswichtig angesehen worden war, das Volk bei guter Laune zu halten. Allerdings fanden sich auch recht dürftige Filmchen unter den übernommenen und später vollendeten Streifen, wie schon der Titel „Träum nicht, Annette!“ verrät.

Hin und wieder läßt Theuerkauf seiner moralischen Empörung freien Lauf, wenn er meint, ob nicht gerade die DEFA mit den Ufa-Filmen „die inhärente Botschaft eines menschenverachtenden Regimes in die neue Zeit“ transportiert hätte. Bei der Fülle der Unterhaltungsfilme, auch wenn zur Zeit ihrer Entstehung Goebbels hiermit das genannte Ziel verfolgte, sind diese Bedenken sicher dennoch übertrieben. Ob es nun „Die Fledermaus“ oder „Münchhausen“ ist, abgelöst von den unmittelbaren Umständen ihrer Enstehung verkörpern sie tatsächlich nur perfekte Unterhaltungsfilme ohne irgendwelche anhaftenden Botschaften. Interessanter scheinen schon Filme, wie „Titanic“, deren Anklage gegen Börsenspekulanten, die Schuld am Untergang der Titanic gehabt hätten, auch der DEFA ideologisch recht gut ins Konzept paßte. (Allerdings hatte man hier natürlich ein Werk, daß im Dritten Reich wegen „Panikmache“ verboten war.)

Unter den bislang nicht fertiggestellten Filmen vermutet der Autor noch so manches kleine Juwel. Die Namen der Regisseure lassen dies jedenfalls vermuten: Georg Wilhelm Pabst, Gerhard Lamprecht, Erich Engel. Auf diesem Gebiet ist Theuerkauf natürlich ein profunder Kenner der Materie, rekonstruierte er schließlich selbst den Wolfgang-Staudte-Film „Der Mann, dem man den Namen stahl“, der 1996 seine späte Uraufführung erlebte. Dieser Arbeit und der spannenden Suche nach dem ursprünglichen Schnittmaterial wird folgerichtig auch ein eigenes Kapitel gewidmet. Eine weitere Rekonstruktion von Theuerkauf könnte mit dem Harry-Piel-Film „Der Mann im Sattel“ noch 1998 zur Premiere gelangen.

Komplettiert wird Theuerkaufs informatives Buch von einem umfangreichen Anhang mit einer Kurzdarstellung aller Ufa-Filme, die unter die folgenden Rubriken fallen: bis 1945 verboten; zugelassen, aber nicht mehr uraufgeführt; nach 1945 fertiggestellt; abgedreht, aber nicht mehr fertiggestellt; unvollendete Produktion.

Weiteres unbekanntes Filmmaterial wird übrigens in Rußland vermutet, aber auch in London liegen ungefähr 160 deutsche Spielfilme. Weitere siebentausend (!) Filme, Negative und Kopien sind durch amerikanische Filmoffiziere nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten abtransportiert worden. An die letztgenannten Adressen sind aber Rückführungsforderungen seitens deutscher Politiker offenbar nicht so populär.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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