Eine Rezension von Herbert Mayer


Diffizile Aufarbeitung der Geschichte

Sergej Mironenko/Lutz Niethammer/Alexander von Plato (Hrsg.):

Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950

Band 1: Studien und Berichte. Herausgegeben und eingeleitet von Alexander von Plato.

Akademie Verlag, Berlin 1998, 596 S.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit nach 1945 gab es entsprechend den alliierten Beschlüssen von Potsdam in allen vier Besatzungszonen Internierungslager.

Der voluminöse Band leitet eine Serie von drei Bänden zu den Sonderlagern in der SBZ ein. Leider verdeutlicht der allgemein gehaltene Bandtitel Studien und Berichte nicht, daß hier Respektables mit neuen Forschungsergebnissen, mit weiterführenden Fragestellungen und mit eindrucksvollem Materialreichtum vorliegt. Ein weiterer Vorzug des Bandes wird schnell erkennbar in der deutsch-russischen Zusammenarbeit. Sie läßt sich zumindest auf dreifache Weise beschreiben: als gemeinsames Forschungsprojekt, als gemeinsame Publikation und als gemeinsame Auswertung deutscher und russischer Archive.

26 als Autoren und Herausgeber beteiligte Wissenschaftler aus Deutschland und Rußland stellen mit diesem thematisch angelegten Band in 31 Beiträgen ein Themenfeld vor, über das seit langem und kontrovers diskutiert wird. Dennoch waren solide Forschungsergebnisse bisher wohl eher selten anzutreffen. In der (Alt-)Bundesrepublik waren zeitgenössische Erlebnisberichte von deutschen Internierten häufig aus der Perspektive des „unschuldigen“ Opfers geschrieben und waren im Kalten Krieg für die Propaganda willkommen. In der DDR hingegen blieb die Problematik bis zum Herbst 1989 ein Tabu-Thema. Erst ihr letzter Innenminister wandte sich 1990 um Auskunft an die Sowjetregierung. Das erschütternde Ergebnis: eine Statistik mit 122671 internierten Personen, von denen 42889 verstorben waren. Seither sind auch diese Zahlen in der kontroversen Debatte. Überlebende bezweifeln sie als zu niedrig und setzen die Sonderlager mit den nationalsozialistischen Konzentrationslagern gleich. Dagegen wehrten sich die Überlebenden der KZ, vor allem, wenn beide Lager im Gedenken gleichgesetzt wurden.

Jetzt stehen nun erstmals Quellen aus russischen Archiven zur Verfügung. Dennoch müssen die Herausgeber auf eine weiterhin einseitige Quellenlage verweisen, da die Akten aus Rußland die „reine Verwaltungsperspektive“ vermitteln, während Personalakten oder operative Akten des sowjetischen Geheimdienstes nicht zugänglich sind. Ausgewertet werden konnte dennoch ein beachtlicher Bestand von fast 11000 Blatt, vor allem aus dem Bestand Speziallager des Staatsarchivs der Russischen Föderation (GARF) und Mappen von Mitgliedern des Politbüros (einschließlich „Stalin-Mappen“).

Die meisten Beiträge zeichnen sich durch ihre sachliche, konzentrierte und aussagekräftige Darstellungsweise aus. Drei Schwerpunkte sind zu nennen: der geschichtliche Überblick über die sowjetischen Lager insgesamt, die Darstellung einzelner Speziallager und vergleichende, übergreifende Aspekte. In den einführenden Abschnitten gibt Alexander von Plato einen Überblick über die Geschichte des sowjetischen Speziallagersystems in Deutschland, zwei weitere Beiträge (G. Kuznecova/D. Nachatovic sowie C. Schölzel) informieren über Quellen zu den Speziallagern in Rußland und Deutschland. Für das Verständnis der Problematik erweist sich als richtig, daß sich ein ganzer Komplex mit dem „historischen Hintergrund“ befaßt. L. Niethammer beschäftigt sich mit der Problematik alliierter Internierungslager nach 1945 in Deutschland und arbeitet Methoden der Vergleichbarkeit wie auch offene Forschungsprobleme heraus. J. Foitzik behandelt Organisationsstruktur und Zuständigkeit in der SMAD. Zwei weitere Beiträge (V. Kolzov, N. Petrov) befassen sich mit dem NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheit, ab 1946 Innenministerium) zwischen Januar 1945 und 1953. Abgeschlossen wird der Komplex mit Darstellungen zur Tätigkeit sowjetischer Miltärtribunale (P. Erler) und zu Verhaftungen durch sowjetische Geheimdienste in Thüringen (G. Hammermann). Ein weiterer Abschnitt hat vergleichende, übergreifende Aspekte zum Gegenstand. Behandelt werden u. a. Versorgung, Krankheit und Tod in Speziallagern, die Mobilität zwischen den Lagern, sowjetische Staatsbürger und Ausländer in Speziallagern, deutsche Kriegsgefangene als Häftlinge in der SBZ sowie erfahrungsgeschichtliche Aspekte des Lagerlebens.

Im letzten Teil des Bandes befassen sich die Autoren (N. Jeske, V. Neumann, J. Lipinsky, H. Kersebom und L. Niethammer) mit den „quantitativen Dimensionen“ der Thematik. Untersucht werden u. a. die Speziallagerstatistiken und ihre Bewertung sowie die Häftlingsstruktur in Buchenwald und Bautzen. Als Ausblick schließt sich ein Artikel (W. Otto) über die Waldheimer Prozesse an, für die aber nicht mehr die SMAD, sondern die DDR-Justiz verantwortlich war. Anhang, Abkürzungsverzeichnis, Personenregister und Bibliographie ergänzen den Band.

Insgesamt ergibt sich ein guter Überblick über die Grundlinien der sowjetischen Lagerpolitik in Deutschland. Auch ihre Einbindung in andere Zusammenhänge wird sichtbar: in die Zusammenarbeit mit den westlichen Alliierten, in militärische, Sicherheits- und Reparationsfragen oder in Zuständigkeits- und Entscheidungskompetenzen der sowjetischen Behörden.

Nach diesem Band wird es schwieriger sein, die Mitverantwortung der Inhaftierten in der NS-Zeit zu negieren und die Lager nur als Instrument des kommunistischen Terrors zu interpretieren. Genausowenig wird es möglich sein, alle Lagerhäftlinge als Mitverantwortliche im NS-Regime zu sehen.

Zu den offenen Fragen zählen u. a. die nach der Zusammensetzung der Inhaftierten und den Gründen ihrer Internierung. Basierend auf den Verwaltungsakten, wird eine Tendenz angedeutet: Repräsentative Stichproben belegten, „daß die Internierung ganz überwiegend Partei- und Staatsfunktionären des dritten Reiches galt, wobei - abweichend von der bisherigen deutschen Wahrnehmung - darüber hinaus Vorwürfe der Beteiligung an der Mißhandlung sowjetischer Staatsbürger im dritten Reich oder auf dem Boden der Sowjetunion als ein bemerkenswerter Komplex von Verhaftungsgründen hervortritt“ (S. 14). Anders verhält es sich mit Urteilen von sowjetischen Militärtribunalen, die Deutsche nur zu einem geringen Teil wegen Handlungen oder Positionen im Dritten Reich verurteilt hatten, sondern meist wegen Handlungen, Äußerungen oder Einstellungen gegen die sowjetische Besatzungsmacht. Ungenügend klären lassen sich aufgrund der Quellenlage bisher die Verhaftungen, Verhöre, Eingliederung in die Lager sowie Haftbedingungen und Häftlingsalltag. Auch über die verwendete Begrifflichkeit besteht in der Forschung keine Einheitlichkeit. So z. B. Speziallager oder Sonderlager oder ob Internierte nur für die Nichtverurteilten oder für alle Lagerhäftlinge gelte. Insgesamt sichtbar ist das Bemühen, abschließende Wertungen zu vermeiden, insbesondere da, wo die heutige Materialbasis nicht aussagekräftig ist. Die Autoren verdeutlichen, daß die gegenwärtige Aktenlage Raum für verschiedene Interpretationen bietet.

Der Band erfüllt sein Anliegen, zur Versachlichung der Diskussion um die Sonderlager beizutragen. Fast überflüssig zu sagen, daß er den gegenwärtigen Wissensstand repräsentativ reflektiert und gewissermaßen die Zwischenbilanz in der Erforschung der Sonderlager in der sowjetisch besetzten Zone zieht. Künftige Diskussionen und Meinungsäußerungen zum Thema können, wenn sie den Anspruch der Seriosität und Glaubwürdigkeit erheben wollen, an seinen Ergebnissen nicht vorbeigehen. Für die weitere Forschung und Bewertung nicht unwichtig ist, daß alle Archivkopien der deutschen Projektmitarbeiter nach dem Abschluß des Dokumentationsprojektes beim Bundesarchiv hinterlegt werden sollen.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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