Wiedergelesen von Karla Kliche


Ernst Jünger: Der Weltstaat

Organismus und Organisation.

Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1960, 75 S.

 

Wiedergelesen? - Das trifft wohl bei diesem Autor für kaum einen Leser im Osten zu; galt Ernst Jünger in der DDR doch als Rechter, als Nationalist und Kriegsverherrlicher, ja als profaschistisch (vgl. die Wertungen im „Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller“, 2. Aufl., Berlin 1972). Seine Bücher wurden nicht verlegt, Arbeiten über ihn, zumal wenn sie denn zu differenzierteren Urteilen gelangten, hatten keine Chance zur Veröffentlichung.

Insofern fasse ich den Titel dieser Rubrik allgemeiner: Nicht die erneute Lektüre eines vor Jahrzehnten gelesenen Textes und die Ähnlichkeit bzw. Differenz des Leseerlebnisses sind der Aspekt. Mich interessiert an diesem Text in einer Zeit, wo „Globalisierung“ die letzte Begründung für eine Vielzahl von Problemen ist, was Jünger vor fast vierzig Jahren unter „Weltstaat“ versteht.

Dieser philosophische Essay von 1960 beginnt mit einer Frage, die den Autor zu einer Gegenfrage herausfordert. Die Frage lautet: „Wo stehen wir heute?“ und war - so ist dieser Erstauflage auf einer unpaginierten Seite zu entnehmen - der Titel eines Sammelbandes (hrsg. von H. Walter Bähr), in dem sich 20 namhafte Persönlichkeiten (u.a. Max Born, Martin Buber, Karl Jaspers, Albert Schweitzer, Arnold Toynbee; Jüngers Text war darin gekürzt erschienen ) zu ebendieser Frage äußern. - Ernst Jüngers Gegenfrage: „Stehen wir denn überhaupt?“ Und diese Gegenfrage bringt ihn auf den Sachverhalt, den er in den 30 Abschnitten des Textes ausdrücklich oder seine Hintergründe einkreisend von den verschiedensten Seiten her angeht. Er nennt ihn: „wachsende Beschleunigung“ oder (ital./musik.) „accelerando“; „Schub“. Dies im Gegensatz zu „status“, womit er das „Stehen“ („des Bestandes“) aus der Frage aufgreift und davon „Staat“ ableitet; als etwas, das „unser Dasein heute bis in die Einzelheiten formt“.

Meine Schwierigkeit im Verstehen dieses Textes liegt darin, daß ich eher historisch denke, was Jünger schon 1960 (also bevor das „Ende der Geschichte“ ein Modewort wurde) als ein der Vergangenheit angehörendes Denken wertet. Für ihn ist das Historische u. a. an die große, Geschichte machende Persönlichkeit gebunden, deren Zeit abgelaufen ist (versinnbildlicht in der heutigen Unangemessenheit von „Stand“bildern, von Monumenten des „großen Menschen“; dem würde ich ohne weiteres zustimmen); der Bezugspunkt von Jüngers Denken ist die Erde und ihr Eingebundensein in ein kosmisches Ganzes. Dementsprechend ist seine Begrifflichkeit eine ganz andere als die mir vertraute; dem Politischen konfrontiert er eine Eigengesetzlichkeit der Erde, ein „Erdgeistiges“ (die Konstatierung seiner Goethe-Rezeption wäre nicht neu), einen „Erdstil“, eine „Erdrevolution“, einen „Erdplan“. Es sind die Bilder eines philosophierenden Schriftstellers, der aber, anders als Spengler (gegen den er übrigens im Text kurz polemisiert), nicht den „Untergang“ sieht, sondern ein Wirken der „Erdgeschichte“ auf den „Ursprung“ hin (was immer das heißt), was ihn durchaus hoffen läßt. Seine Perspektive auf die Gegenwart ist nicht die einer Konsequenz aus der Vergangenheit, sondern er sieht in der Gegenwart „Vorzeichen“, „Anzeichen“ für „Eintretendes“, für etwas, das auf alle Fälle Beunruhigung mit sich bringt.

„Vorzeichen“ in bezug auf den „Weltstaat“ sieht Jünger in der Konstellation des Kalten Krieges (wobei dieser Begriff lediglich einmal, und zwar apostrophiert, fällt, da er sich politischer Begrifflichkeit ja generell nicht bedient): Die Existenz von zwei Machtzentren sieht er als Etappe auf dem Weg dahin. Für ihn ist der „historische“ Staat samt seiner Sinngebungen und Ansprüche an den einzelnen an seine Grenzen gekommen.

Mein Versuch, das die Dinge umkreisende Denken Jüngers auf eine gewisse Linearität zu bringen, sollte an dieser Stelle besser erst einmal unterbrochen werden. Ist doch seine Perspektive auf die Welt nicht nur die des philosophierenden Schriftstellers, sondern auch die des studierten Naturwissenschaftlers, oder genauer: des Insektenforschers. Als solcher hat er genaue Kenntnis von „Staat“ als Organisationsform im Tierreich, und hierzu setzt er die des Menschen in Analogie (wohlgemerkt: nicht gleich; das Analogisieren war z. B. in der Romantik, etwa bei dem auch naturwissenschaftlich tätigen Novalis, eine Methode, den Erscheinungen auf ihr Wesen zu kommen). Staatenbildungen im Tierreich haben für ihn etwas Zufälliges, andererseits bestehen für ihn „ohne Zweifel“ „Beziehungen zwischen der Eigenart der Organismen und ihrer Organisierbarkeit“, die er bei Insekten (etwa den staatenbildenden Bienen und deren arbeitsteilige Funktionalisierung in Arbeitsbienen, Drohnen, Königin) auch in den Körperformen ausgeprägt sieht. Hier sei der Zusammenhang zwischen „Organismus und Organisation“ (s. Untertitel) am vollkommensten gelöst. Bei den höheren Tierformen finden sich Staatenbildungen seltener. Dies gibt er zu bedenken, wenn von dem Menschen als dem „Zoon politikon“ die Rede ist; die Entscheidung, ob der Staat das dem Menschen Gemäße ist, sei noch in der Schwebe. (Erinnert das nicht an das marxistische Theorem vom notwendigen Absterben des Staates - während demgegenüber seine Strukturen in der staatssozialistischen Praxis allerdings gerade extrem ausgebaut wurden?)

Dies so zu sehen, bedarf es eines immensen Abstandes des Beobachters zu seinem Gegenstand. Und den nimmt sich Jünger, indem er die (kurze) Menschheitsgeschichte in Relation zur Evolution und zur Erdgeschichte betrachtet.

Jünger, der bekennende Nationalist der zwanziger Jahre, reflektiert hier 1960 auch das Problem des deutschen Nationalstaates. Sein Signum sei, „daß die Reformation und die Revolution nicht wie in England und Frankreich durch ein Entweder-Oder gelöst, sondern mit einem Sowohl-als-Auch in der Schwebe geblieben sind“ (diese Wertung könnte den Jünger-Kenner Karl Heinz Bohrer zu der Äußerung geführt haben, das Problem der deutschen Einheit sei, daß 1989 kein Blut geflossen ist). Im „Sowohl-als-Auch“ verberge sich „das Schicksal der Mitte“ (hierin ist er nahe an Thomas Mann), „in der die Fragen nicht so eindeutig und auch nicht so einfach wie an den Rändern zu beantworten sind“. „Der Nationalstaat“, schreibt er, „hat hier nie wirklich Wurzel gefaßt.“ Im übrigen sei generell die Staatsbildung dadurch bestimmt, daß es - menschheitsgeschichtlich gesehen - andere Staaten gab, womit sich kriegerische Gewalt und das Bedürfnis nach (militärischer) Sicherheit begründe.

Doch - um wieder zum Weltstaat zu kommen - gehöre der Nationalstaat ohnehin dem historischen Denken an. Nicht nur seine Inhalte - wie Recht, Moral, Verträge - sind in Bewegung gekommen, sondern der „Rahmen selbst“, d. h. die Organisationsform der Zivilisation. Bei der „Wende“ (S. 18), die Jünger konstatiert, der großen, sich beschleunigenden Bewegung, gehe es nicht um das Schicksal einzelner Völker, sondern des Menschen schlechthin. Wie d e r Mensch sich darin zu plazieren vermag, hängt nicht zuletzt vom Gebrauch seiner (vom Autor unter den vielfältigsten Bezügen reflektierten) „Willensfreiheit“ ab, dem Humanum an sich, dem „Möglichen“ - gepaart mit Verantwortung (die Möglichkeiten und Gefährdungen durch Wissenschaft und Technik, vor allem die Atombombe, haben sich hier eingezeichnet) -, das seine Grenze vom „Anderen“ erfährt. Mit der Balance von „rotem und weißem Stern“, von „Partnern“, bei denen er eher Ähnlichkeiten, gar Identitäten, konstatiert als Konkurrenzen, sieht er die beiden Weltstaaten auf dem Wege zum Weltstaat: Sie hätten die gleichen Leitworte (Frieden, Freiheit, Demokratie), ein und dieselbe Technik, die zur Perfektion getrieben wird; wo „die Ideologien verschieden sind, wie hinsichtlich der Wirtschaft, bringen sie doch im Ergebnis immer ähnlichere Formen hervor“. Ähnlichkeit der Ideale findet er zum Beispiel in der Raumfahrt. In dieser prinzipiellen „Ähnlichkeit der Riesenpartner“ sieht er „die beiden Hälften der Gußform zur Bildung eines Weltstaates“, und diese Aussicht hält er für wahrscheinlicher und wünschenswerter als eine neue Aufteilung der Macht unter Einbeziehung Dritter.

„Der Zeitgenosse“, schreibt Jünger, „neigt dazu, den aktuellen Vorgang zu überschätzen ...“ Dieser Gefahr erliegt er nun wahrhaftig nicht. Die unorthodoxe, weit abgehobene Sicht auf die beiden Weltkontrahenten läßt ihn nun aber Dinge wahrnehmen, die dann später durchaus eingingen in konvergenztheoretische Konzepte. Und zudem markiert er letztlich, daß hier die Crux des Untergangs der einen Macht und des mit ihr verbundenen Systems lag: Sie wollte eine neue Welt schaffen, doch letztlich mit denselben Mitteln wie ihr Konkurrent, nur bei eben schlechterer Ausgangsbasis und mit elenderen Mitteln.

Nun ist die eine Großmacht - im Gegensatz zu „Weltstaat“ als einer erdgeschichtlichen Dimension ordnet Jünger diesen Begriff dem in seinem Verständnis überholten geschichtlichen Denken zu - übriggeblieben. In dieser Weise hat das Ernst Jünger 1960 nicht voraussehen können, im Gegenteil: Das „finale Maximum“, das beide bildeten, bot ihm das Modell für seine Weltstaat-Vorstellungen. Details einer möglichen politischen Konstruktion von „Weltstaat“ allerdings gibt er nicht (und wahrscheinlich möchte er sie auch gar nicht wissen). - Nun also die eine Großmacht und „Globalisierung“ - geht das zusammen? Jünger spricht mehrmals von dialektischen Sprüngen, dem Umschlagen von Quantität in Qualität. Wie die Lage aktuell ist, liegt hier ein solcher Qualitätssprung, auch im Sinne Jüngers, nicht vor: Sein globales (der Begriff fällt, ebenso wie „planetarisch“) Denken ist menschheits- und erdgeschichtlich orientiert. In diesem Sinne wird „global“ heute zwar im Hinblick auf Gefährdungen der Erde und der Menschheit benutzt, vor allem aber herrscht dieser Begriffsgebrauch vor in bezug auf Weltmarkt, Wirtschaft, Finanzen ... Damit verbleibt das Denken und Agieren auf der Ebene der Inhalte, ignoriert, daß - um mit Jünger zu sprechen - der „Rahmen selbst“ in Bewegung gekommen ist. Daß die neuen Medien etwa das herkömmliche Vertragsverständnis sprengen, zeigt sich ja gerade; von den die Grenzen in Frage stellenden Migrationsbewegungen ganz zu schweigen. Das Problem „Arbeit“ sucht die Politik mit herkömmlichen Mitteln - das heißt im „alten Rahmen“ - zu lösen, wenn nicht unter dem Vorwand der „Globalisierung“ die Arbeit zu Dumpinglöhnen in die ärmeren Länder verlagert wird. Der „Rückzug des (nationalen) Staates“ (der „Organisation“), was sich ja vielleicht mit Jüngers Vorstellungen treffen könnte, gestaltet sich jedoch als ein Zurück ins 19. Jahrhundert, doch nun global. Eine menschheitsgeschichtliche Dimension ist darin nicht zu erkennen. Jünger versuchte eine solche wenigstens, als er die Tendenzen wahrnahm, wenn auch seine Vorstellungen Anlaß zum Streiten sein könnten. Es ist sicher nicht verfehlt, sie so kurz zusammenzufassen: Der Mensch hat sich eine „zweite Natur“, die „Kultur“ geschaffen; dies sei die Basis, auf der er - auf höherer Ebene - zu seinem „Ursprung“ zurückkehre.

Im übrigen gibt er im Schlußteil ein Porträt des Anarchisten, worin er meines Erachtens sich selbst schildert. Und: Er spricht von „Angleichung der Geschlechter“ (doch dies wäre ein eigenes Thema). Jüngers Blick auf die Welt ist der eines Ästheten, er ist elitär, sicher. Er sieht sich als Beobachter, der innerhalb einer beschleunigten Bewegung einen Standort sucht - und findet: als „musischer Geist in seiner größeren Nähe zum Sein“ als der „historisch oder gar politisch Wahrnehmende“ und im wohl auch ihn selbst einschließenden Verständnis von Dichtung: „Immer muß Dichtung, müssen Dichter vorangehen.“

Dieses Visionäre, dieses Seherische ist postmodern fragwürdig geworden. Für Jünger war es Konzept.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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