Wiedergelesen von Helmut Fickelscherer


Jules Verne: Von der Erde zum Mond

Verlag Neues Leben (Kompaß-Bücherei, Bd. 120), Berlin 1968, 190 S.

ders.: Reise um den Mond

Verlag Neues Leben (Kompaß-Bücherei, Bd. 121), Berlin 1968, 191 S.

 

Vor hundertsiebzig Jahren, am 8. Februar 1828, wurde in Nantes Jules Verne geboren, ein Schriftsteller von weltliterarischer Bedeutung, der eine neue Literaturgattung entwickelte, den (natur)wissenschaftlich-phantastischen Roman, der später eine wesentliche Richtung in der Sciencefiction des 20. Jahrhunderts markierte.

Jules Verne sammelte in einer umfangreichen Kartei Wissenswertes über die Naturwissenschaften, aber auch über die Gesellschaft, und veröffentlichte 1863 im „Magazin der Erziehung und Unterhaltung“ des Verlegers Hetzel seinen ersten Roman: Fünf Wochen im Ballon, mit dem er sogleich bekannt wurde und die Reihe der Beschreibungen „außerordentlicher Reisen“ eröffnete. Seine Romane - wie Reise um die Erde in achtzig Tagen, Die Kinder des Kapitäns Grant, Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, Die geheimnisvolle Insel, Der Kurier des Zaren, Nord gegen Süd und viele andere mehr - werden noch heutzutage immer wieder verlegt und auch gelesen, es gibt zahlreiche Verfilmungen, darunter bereits einen Stummfilm zu Vernes Lebzeiten, und Bühnenbearbeitungen.

Die meisten Bücher Jules Vernes widerspiegeln den Fortschrittsglauben seiner Zeit. Der industrielle Aufschwung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die vielen neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, eine Vielzahl von Erfindungen, aber auch die Festigung der bürgerlichen Staaten ließen ein Zeitalter der Vernunft, der internationalen Zusammenarbeit erwarten. Mit besonderer Sympathie verfolgte Jules Verne die Entwicklung in den USA. Nach Ende des Sezessionskrieges, 1865, wurde die Sklaverei abgeschafft, Industrie, Handel und Bankwesen florierten, zumindest nach außen hin herrschte Demokratie in einem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ für jedermann. Und so traute er auch den Vereinigten Staaten die Verwirklichung eines alten Traumes der Menschheit, einer Reise zum Mond, zu. Schon 1865 erschien sein Roman Von der Erde zum Mond, dem erst 1879 die Fortsetzung Reise um den Mond folgte. Es gibt mehrere deutsche Ausgaben dieser zwei Bücher, 1968 wurden sie in der beliebten Kompaß-Reihe des Verlages Neues Leben veröffentlicht, die Texte „nach einer alten Übersetzung bearbeitet“. Beinahe will ein Gefühl der Nostalgie aufkommen, wenn der Wiederleser nach 30 Jahren die nun schon wegen des holzhaltigen Papiers vergilbten beiden Bändchen durchblättert, die er damals im Verlag als Lektor redigiert hat. Aber die vergilbten Seiten bedeuten nicht, daß ihr Inhalt verstaubt ist, und man ist bald wieder gefesselt von Jules Vernes Mondfahrtstory.

Nach dem soeben beendeten Bürgerkrieg in den USA schlägt Impey Barbicane, Präsident des „Gun-Klubs“, einer martialischen Artilleristenvereinigung aus Baltimore, den Vereinsmitgliedern vor, ihre bisher nur kriegerisch benötigten Kenntnisse für den Bau einer gewaltigen Kanone zu nutzen, mit der in friedlicher Anwendung ein Projektil zum Mond geschickt werden kann.

Barbicanes Vorschlag löst in den USA, aber auch rings um den Erdball, eine unglaubliche Begeisterung aus. Wenig später legt man die Einzelheiten fest: Das Projektil soll aus Alumini um als Hohlkugel gefertigt werden, die Kanone muß 900 Fuß lang sein, 400000 Pfund Schießbaumwolle sind zu zünden. „Auf diese Weise wird die Kugel über siebenhundert Fuß im Rohr der Columbiade (Kanone) unter dem Druck von sechs Milliarden vierhundert Millionen Liter Gas zu durchlaufen haben, bevor sie dem Nachtgestirn entgegenfliegt.“ Zur Deckung der enormen Kosten des Vorhabens wird eine Subskription in aller Welt veranstaltet.

Unter kaum vorstellbaren Anstrengungen und unter Einsatz der damals modernsten Technik wird in Florida das Experiment vorbereitet, die riesige Kanone gegossen und gleichzeitig in den Rocky Mountains ein leistungsstarkes Teleskop gebaut, mit dem man den Flug des Projektils würde verfolgen können. Schon will man die Hohlkugel herstellen, als eine Depesche aus Frankreich und bald darauf deren Absender, der Abenteurer Michel Ardan, eintreffen. Er regt an, das Projektil als Zylinder mit aufgesetztem Kegel - also wie ein Raumschiff - zu fertigen, denn er möchte mit diesem Gerät zum Mond reisen. Wie nicht anders zu erwarten, steht dem nach einigen Überlegungen nichts im Wege, und Gun-Klub-Präsident Barbicane wird ihn begleiten, ebenso Kapitän Nicholl, Barbicanes ärgster Widersacher, der allerdings mitfliegt, um zu beweisen, daß die Mondreise nicht gelingen kann, worüber er - ganz nach Jules Vernescher Manier - mit Barbicane Wetten abgeschlossen hat.

Der Hohlkörper wird gemütlich eingerichtet und verproviantiert, Bullaugen werden Beobachtungen ermöglichen, eine Holzkonstruktion mit dicken Spiralfedern und ausströmendes Wasser sollen den Startdruck mindern, zwei Hunde und ein paar Hühner werden mit an Bord genommen - und natürlich die amerikanische Flagge!

An einem 1. Dezember, 22 Uhr 46 Minuten 40 Sekunden, macht sich das Projektil, Rauchschwaden, Erdbeben und eine Springflut hinterlassend, bei denen manch Beteiligter und Unbeteiligter zu Schaden kommt - aber das ist bekanntlich für die Geschichte nicht wichtig -, auf den Weg „von der Erde zum Mond“.

Im zweiten Teil, der Reise um den Mond, haben die drei kühnen Raumfahrer in ihrem „Projektilwaggon“ die Belastungen beim Start gut überstanden, nur einer der beiden Hunde ist schwer verletzt worden. Ein Asteroid, mit dem das Raumfahrzeug fast zusammenstößt, bewirkt eine Kursänderung, die die Mondlandung verhindert. Statt dessen gerät es auf eine Mondumlaufbahn, wird zum Trabanten des Erdtrabanten. Auf diese Weise können die Reisenden nicht nur den von der Erde aus sichtbaren Teil des Mondes mit all den Gebirgen und Kratern, sondern auch die Mondrückseite beobachten, zumal ein in feurige Meteore zerplatzender vagabundierender Felsbrocken die dortige Szenerie für kurze Zeit erhellt. Sie glauben Wolken, Ozeane und Wälder zu sehen, sind sich dessen aber nicht sicher, da Finsternis sie bald wieder umfängt. Endlich taucht erneut die beleuchtete Seite des Mondes auf. Insgesamt sind die Erkenntnisse über die Beschaffenheit des Erdtrabanten ernüchternd: Er ist vielleicht einst bewohnt gewesen, aber er ist für Menschen nicht bewohnbar. Trotzdem hoffen die drei Forscher, auf dem Mond Reste einer Atmosphäre und genügend Wasser vorzufinden, um überleben zu können, Saatgut haben sie an Bord. Um die Mondoberfläche doch noch zu erreichen, zünden sie an einer bestimmten Stelle der Umlaufbahn einige Raketen, die ursprünglich als Bremsraketen vorgesehen waren. Doch irgend etwas an der Berechnung war falsch; das Projektil fliegt nicht zum Mond, sondern stürzt zur Erde zurück.

Am 12. Dezember, um ein Uhr siebzehn, 53 Meilen vor der amerikanischen Pazifikküste, wird auf der „Susquehanna“, einem Vermessungsschiff der US Navy, gerade das Tiefenlot wieder eingeholt, als „ein großer Bolide auftauchte, der bei der reißenden Schnelligkeit seines Falles durch die Reibung der Luftschichten in vollen Flammen stand“. „Kommandant, sie sind zu rückgekehrt!“ meldet der Seekadett seinem Kapitän.

Die Mondreisenden sind unversehrt angelangt, ihr Projektil dümpelt auf dem Meer, und aus der Luke an der Kegelspitze weht die amerikanische Flagge. Im Triumphzug geht es nun durchs Land, Präsident Barbicane verkauft seinen Reisebericht „für einen Preis, den man noch nicht kennt, der aber ausnehmend hoch gewesen sein muß“, an den „New York Herald“, bevor er die „Nationalgesellschaft der Verkehrsverbindungen zwischen den Sternen“, eine florierende Aktiengesellschaft, gründet.

Der verwegene Michel Ardan behauptet zwar: „Ehe zwanzig Jahre verflossen sind, wird die Hälfte der Erdbewohner dem Mond einen Besuch abgestattet haben!“; dennoch dauerte es hundert Jahre, bis der Mensch realiter den Mond betrat, bis tatsächlich die amerikanische Flagge dortselbst aufgepflanzt wurde. Und es war kein gemeinsames Vorhaben der Menschheit, sondern resultierte aus dem verbissenen Zweikampf zweier gesellschaftlicher Systeme im Kalten Krieg. Sowjetische Raumforschungserfolge beschleunigten das amerikanische Apollo-Projekt, überhastete Reaktionen auf beiden Seiten gefährdeten und kosteten sogar Menschenleben.

Als die beiden Kompaß-Bändchen mit den Jules Verneschen Texten und den originellen Collagen des früh verstorbenen Grafikers Peter Nagengast 1968 erschienen, waren Mondforschung und Mondflug also durchaus aktuell. Wie aktuell, bekam der Lektor zu spüren, als er den Nachwortautor, einen bekannten Schriftsteller und Satiriker, überredete, das Nachwort, das den Leser bilden, erbauen und auf den rechten Weg geleiten sollte, etwas klassenkämpferischer zu gestalten. So kam jener Satz zustande, in dem geschrieben stand, die Hoffnungen, die Jules Verne in die USA setzte, hätten sich als Trugschluß erwiesen, und es sei kein Zufall, sondern eine Folge der gesellschaftlichen Verhältnisse, daß die Sowjetunion in der Weltraumforschung führe.

Am 21. Juli 1969 nun tat Neil Armstrong diesen „kleinen Schritt für den Menschen“, der „ein Riesensprung für die Menschheit“ war - etliche Leser aber hatten die forschen Zeilen im Nachwort nicht vergessen, fanden sie weder klug, erbaulich noch richtig, und es gab einige zornige und hämische Briefe.

Von diesem Kuriosum abgesehen, stellt sich die Frage, wie aktuell ist Jules Verne wirklich. Und da ergibt sich Erstaunliches. Nicht nur, daß die amerikanischen Raketen nach wie vor unweit jener Stelle starten, an der Jules Verne seine Riesenkanone bauen ließ - vielleicht spielen dabei Äquatornähe und das Meer ringsum als „weicheres Medium“ bei Landungen tatsächlich eine Rolle -, auch Bahngeschwindigkeit, Startfenster, Bremsraketen, Luftwiederaufbereitung und manch andere technische Details sind schon bei ihm Grundvoraussetzungen erfolgreicher Raumfahrt. Sicher kann man einen Hundekadaver nicht einfach - wie im Text beschrieben - zur Luke hinaus in den Weltraum schieben, die Wirkungen von Startdruck, Reibung in der Atmosphäre und Schwerelosigkeit sind ebenfalls unterschätzt, aber was tut das schon. Wichtiger als solche Einzelheiten ist wohl Jules Vernes Erkenntnis, daß Raumfahrt eine friedliche Nutzung der Technik voraussetzt und daß sie - auch wenn im vorliegenden Fall von den USA realisiert - eine Sache der gesamten Menschheit ist. Nicht ohne Humor beschreibt er, wie die finanziellen Mittel für den Mondflug in verschiedenster Höhe in den einzelnen Ländern aufgebracht werden.

Die Idee internationaler Zusammenarbeit ließ sich schon zu Lebzeiten Jules Vernes nicht verwirklichen. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 zerstörte derartige Visionen; in den letzten Büchern gab Jules Verne pessimistischen Gedanken Raum. Den Ersten Weltkrieg hat er nicht mehr erlebt; er starb, verehrt und geachtet, am 24. März 1905 in Amiens.

Unterdessen scheint aus der aufstrebenden industriellen Gesellschaft eine stagnierende postindustrielle zu werden, die Utopien wurden zu Antiutopien, der Rationalismus gerät in Verruf. Kommt auch noch der Posthumanismus? Angesichts solcher Entwicklungen und Befürchtungen wirken Jules Vernes Bücher erfrischend alternativ, auch wenn sie schon über hundert Jahre alt sind.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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