Eine Rezension von Kurt Wernicke


Schwieriges Verhältnis?

Christoph H. Werth: Sozialismus und Nation

Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945.
Mit einem Vorwort von Karl-Dietrich Bracher.

Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, 388 S.

 

Der Politikwissenschaftler und Soziologe Werth behandelt natürlich nicht die deutsche Ideologiediskussion in dem von ihm angegebenen Zeitraum, sondern eine von mehreren - die allerdings ihm und seinem Mentor, dem bekannten Zeithistoriker Bracher, offenbar als die einzig wirklich relevante erscheint. Solcher Unbescheidenheit wären verbreitete Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft entgegenzuhalten, und so möchten wir wenigstens daran erinnern, daß es in dem betreffenden Zeitraum zumindest auch heftige ideologisch bestimmte Auseinandersetzungen um den Weg in den Ersten Weltkrieg, um Positiva und Negativa des Hohenzollern-Reichs und um Pragmatismus oder Schandbarkeit der sogenannten Erfüllungspolitik gab. Die im vereinten Deutschland vorher so nicht erwartete dumpfe Wiederbelebung von Grundbestandteilen der NS-Ideologie in Weltbildern gesellschaftlich geschädigter junger Menschen setzt allerdings die Notwendigkeit eines Auslotens der Ingredienzien der angesprochenen Ideologiediskussion erneut auf die Tagesordnung. Leider ist die abgehobene Sprache und die politikwissenschaftlich ambitionierte Analytik in weiten Teilen des vorliegenden Werkes kaum geeignet, dem „vor Ort“ gegen den beunruhigenden Trend angehenden Zeitgenossen (Lehrer, Sozialarbeiter, Kommunalpolitiker) als nützliche Handreichung zu dienen. In didaktischer Hinsicht heben sich allerdings „Einleitung“ und „Schlußbetrachtung“ von den ermüdenden Polemiken der einzelnen Kapitel deutlich ab.

Die „Einleitung“ führt durchaus verständlich in die Problematik ein und weckt schon beim Lesen ihrer ersten Zeilen Interesse: ist mit der historischen Niederlage des osteuropäischen Realsozialismus der Sozialismus als „geschichtsmächtige“ Idee für immer desavouiert oder gar verschwunden? „Aber selbstverständlich nicht!“ wird der Leser antworten, wenn er sich durch das Buch durchgequält hat: Die vor hundert Jahren begonnene Gedankenarbeit, mit der die Utopie von sozialer Gerechtigkeit plus Recht auf Arbeit und Obdach, verwirklicht mittels der planmäßigen Organisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, aus ihrer ursprünglichen Verklammerung mit den Unterprivilegierten herausgelöst und mit konservativen Wertvorstellungen (denen vor dem realen Kapitalismus und seinen vielfältigen Konsequenzen schauderte) verbunden werden sollte - diese Gedankenarbeit lebt angesichts des Unbehagens an der jetzigen realkapitalistischen Gesellschaft ohne Zweifel weiter. Selbst wenn die Linke sich für erheblich lange Zeit nach der großen Niederlage selbst blockiert - abseits der mißlungenen dogmatischen Excathedra-Maßstäbe zur Bewertung, was „Sozialismus“ denn per definitionem sei, existiert ein diffuser Sozialismus-Begriff auch außerhalb der Linken weiter; denn die Realitäten des Realkapitalismus zwingen zu kritischer Auseinandersetzung mit ihnen, aus der notgedrungen auch aus der liberalkonservativen und konservativen Ecke Lösungsvorstellungen erwachsen, die dem Sozialismus zuzuordnen sind. Daß das in einer Krise der Gesellschaft nicht so ungewöhnlich ist, wie es heutzutage die FAZ glauben machen möchte - das weist Werth mit seiner Zusammenstellung ziemlich deutlich nach.

Zur Erzielung s o l c h e r gegenwartskritischer Schlußfolgerung ist der Autor allerdings nicht angetreten. Ihm geht es in erster Linie darum, in der gerade in der Gegenwart sichtbar wiederauflebenden Diskussion um den Stellenwert von Individual- und Gemeinschaftssinn in einer scheinbar für unbegrenzten Individualismus offenen Gesellschaft Stellung zu nehmen - Stellung zu nehmen zugunsten der Werte, die mit der Französischen Revolution Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Positionsbestimmung wurden. Im zum Deutschen Reich mutierten Groß-Preußen nach 1871 rief die vorher schon erkennbare Diskrepanz zwischen (oder, wenn man will: Überlagerung von) nationaler und sozialer Frage sehr bald kritische Geister auf den Plan, die der gängigen schroffen Gegenüberstellung beider Phänomene den Giftzahn zu ziehen bemüht waren, indem sie eine Synthese beider anboten - sich dabei aber notgedrungen Gedanken über eine Bewertung des Individualismus (der Freiheit des einzelnen gegenüber den anderen) machen mußten. Dabei lag es in Groß-Preußen nahe, auf das friderizianische Preußen als das idealtypische Vorbild zu kommen, in dem das Zurücktreten der individuellen Ambitionen hinter den Zwecken des großen Ganzen zugunsten der Staats räson als Grundlage der Politik diente: der erstrebenswerte Typus eines sozialen „Volkskörpers“, der als „deutscher Sozialismus“ angepriesen wurde.

Werths Sympathie ist dagegen unverhohlen bei denen, die die auf das Individuum bezogenen Werte von Liberalismus und Demokratismus als Basis-Maxime der Massengesellschaft (die wir heute Industriegesellschaft nennen) auf den Schild heben. Ätzende Kritik gießt er über jene antiaufklärerisch Denkenden und Predigenden aus, die den (in der zeitlichen Abfolge erst nach seinem vollen Sieg in Westeuropa für Deutschland relevant gewordenen) Realkapitalismus als ein westliches Importgut ansehen und ihm die „gute alte deutsche Sitte“ gegenüberstellen - was in der Antinomie von westlicher Zivilisation versus deutsche Kultur, von kapitalistischer Gesellschaft versus ständische Gemeinschaft seinen Niederschlag findet. Erst damit sind wir bei der „Nation“. Denn alle von Werth vorgeführten Autoren feiern eben diese als die sinn- und identitätsstiftende Entität, hinter der andere gesellschaftliche Zuordnungen zurücktreten. Diese Grundeinstellung im Verein mit einer kapitalismuskritischen Sicht auf die Umgebung bringt erst die Überlegungen von einer Synthese zwischen Gesellschaftsutopie und Nation zustande, die dem Buch seinen Titel liefert.

Diese Überlegungen sind zugegebenermaßen nicht selten von erheblicher Skurrilität, wenn auch die vom Autor vorgelegte Liste durchaus seriöse Namen enthält: Friedrich Naumann, Walther Rathenau, Ferdinand Tönnies und Werner Sombart können bei weitem nicht so als Spinner abgetan werden wie Ernst Niekisch, Arthur Moeller van den Bruck und Ernst Jünger. Letzteren kann man beim besten Willen mit seinem politischen Hauptwerk Der Arbeiter (1932) nicht ernst nehmen - jedenfalls nicht, wenn man nach gegenwärtig modischer Masche den materiellen und geistigen zeitgeschichtlichen Hintergrund wegeskamotiert, der zum Zeitpunkt seines Erscheinens herrschte! Nachgeborene haben den Vorteil, mit ihrer Gnade der späten Geburt verschwenderisch umgehen und von der Höhe ihres Wissens ätzenden Spott in die Wunden der Früheren träufeln zu können. Das Trauma der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der im Widerspruch zur geschichtlichen Wahrheit den Deutschen zudiktierten Alleinschuld am Kriegsausbruch 1914 ist ein Dreivierteljahrhundert nach Versailles kaum mehr nachzuvollziehen; es war aber dieses Trauma, das von rechts bis weit in die politische Mitte hinein den Haß bzw. wenigstens die Abgrenzung westlich-liberal-humanistischen Werten gegenüber beförderte und damit den Gedanken nahelegte, für die deutsche Nation eine andere als die dem Westen immanente realkapitalistische Gesellschaftsordnung zu ersehnen. (Selbst Thomas Mann - den Werth allerdings penibel ausklammert - hat sich bald nach Versailles in dieser Richtung geäußert.) Die Sympathie für Sowjetrußland, das ja aus der westlich geprägten Realität ausgebrochen war, gehört seit 1919 in alle diese Gedankengebäude - und Rathenaus Rapallo-Politik hatte, was wenig beachtet wird, auch ideologische Bezugspunkte in dieser Richtung.

Werth träufelt jedenfalls ätzenden Spott zur Genüge auf Jünger - und zu Recht, wie man gerechterweise hinzufügen muß. Denn wenn Werth insgesamt nachweisen kann, daß die NS-Ideologie nichts Eigenständiges hervorgebracht hat (es war jeder einzelne Bestandteil seit der Jahrhundertwende schon vorgedacht worden, und selbst Drittes Reich [Moeller van den Bruck 1923] und Machtergreifung [Jünger 1932] waren nichts Originelles...), so kulminiert bei Jünger 1932 das verbreitete konservative Verlangen nach einem starken deutschen Staat, der durch eine Generalmobilisierung der Massen die Schmach der Niederlage von 1918 und des Friedens von Versailles 1919 tilgen werde, bereits in einem regelrechten Programm für das Wesen des Ersehnten: „Er wird national sein. Er wird sozial sein. Er wird wehrhaft sein. Er wird autoritativ gegliedert sein.“ (S. 179) Jünger hat allerdings nur in scharfer Zusammenfassung das Bild der Zukunft in voller Klarheit geprägt - gedacht und nur etwas verschleiert vertreten haben es ganze Denkfabriken, wie der TAT-Kreis um Hans Zehrer und die Zeitschrift „Widerstand“ von Ernst Niekisch. Fast allen ist es angesichts der Realität des autoritären NS-Staates aber dann angst und bange geworden, und sie haben sich spätestens ab 1935 nicht weiter in ihn verstrickt. Niekisch landete sogar im NS-Zuchthaus. Aber bei genauerem Hinsehen stellt der NS-Staat nur die konsequente Verwirklichung all der von einer bestimmten Fraktion der Konservativen in die Welt gesetzten Ideen dar, die darauf hinausliefen, den „jüdischen“ und „internationalen“ Marxismus aus dem Sozialismus auszusperren und die marxistisch postulierte klassenlose Gesellschaft zum Postulat der von inneren Disharmonien gereinigten Nation umzuwandeln. Der Endzweck der angestrebten Entwicklung differiert allerdings bei den internationalistischen Linken und den nationalistischen Rechten ganz erheblich: Die Linken wollen mit dem Sozialismus eine Weltära des Friedens und der Völkerfreundschaft einläuten, die Rechten wollen mit ihrem Sozialismus einen starken deutschen Nationalstaat garantieren, der Deutschland den „Platz an der Sonne“ (wenn schon nicht unbedingt die Weltherrschaft) einbringt.

Die brillante „Schlußbetrachtung“ mit dem Untertitel „Sozialismus und Nation - Entwicklungsprofile einer ideologischen Synthese“ entschädigt reichlich für die Mühen, sich in den einzelnen Hauptkapiteln die weitschweifige Polemik des Verfassers mit den Denkern, Planern und Propagandisten eines rechten, nationalen - nein! eigentlich eines chauvinistischen - Sozialismus zu Gemüte führen zu müssen. In diesem summierenden Schlußkapitel fällt Werth ein vernichtendes Urteil über den von der Rechten her kommenden Versuch, aus antiliberaler Position heraus einen Zusammenklang von (übersteigertem) Nationalbewußtsein und sozialistisch motiviertem Gesellschaftsideal zu konstruieren. Das Resultat seiner Untersuchungen kulminiert in seiner Antwort auf die Frage, was denn Rechte am Sozialismus finden konnten: „Marxisten wie Rechtssozialisten (so bezeichnet Werth die Sozialismusanhänger aus dem konservativen Lager; K.W.) wollten dem Kollektiv (der ,Gemeinschaft‘) eine höhere Bedeutung einräumen als dem autonomen Individuum. Der Individualismus wurde als westlich und englisch, als verweichlicht, händlerisch und jüdisch denunziert. Preußen dagegen galt als Modell der Sachlichkeit, hier dominierte ,politischer Kollektivismus‘ (Rathenau) und eine funktionierende Staatsmaschine.“ (S.277) Die z.B. in Asien überhaupt nicht verstandene Vergottung des „autonomen Individuums“, aus der auch die gegenwärtigen Turbulenzen um die westlichen Positionen in der Menschenrechtsfrage resultieren, demaskiert sich so zu guter Letzt als die eigentliche Veranlassung des ganzen vorliegenden Werkes. Ob das 21. Jahrhundert es gerade deswegen schätzen wird, steht noch dahin...

Übrigens versagt sich Werth, die individuellen Spuren seiner Protagonisten weiter zu verfolgen, soweit sie das Dritte Reich überlebten: Kein Leser erfährt, daß Zehrer Chefredakteur der „Welt“ wurde, Jünger als letzter lebender Pour-le-mérite-Träger zu hohen Ehren kam, aber Hitlers Zuchthaus-Häftling Niekisch (der nach 1945 den Weg zur radikalen Linken fand) von der Bundesrepublik mit Stockschlägen auf den Magen bestraft wurde.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite