Eine Rezension von Max-Claus Resel


Warnungen einer hellwachen, engagierten Frau

Heidi Schüller: Wir Zukunftsdiebe - Wie wir die Chancen unserer Kinder verspielen

Rowohlt. Berlin Verlag, Berlin 1997, 187 S.

 

Nach ihren beiden Büchern Die Gesundmacher (1993) und Die Alterslüge (1995), in denen sich die ehemalige Ärztin für ein neues Gesundheitssystem und einen „neuen Generationenvertrag“ einsetzte, plädiert die Mutter zweier Kinder in ihrer neuen Buchpublikation mit Vehemenz dafür, den heutigen Kindern eine lebenswerte Zukunft zu sichern. „Unseren Kindern steht nicht nur die Ungewißheit ihrer eigenen Alters- und Krankheitsabsicherung ins Haus. Sie werden nicht nur über immer weniger Nettogehalt verfügen. Für allzu viele der Jüngeren geht es um die Existenz schlechthin: Um die Chance einer würdigen Erwerbstätigkeit, um die Chance, verantwortlich eine Familie gründen und Kinder in die Welt setzen zu können - ohne von vornherein zum Sozialfall abgestempelt zu sein, zum Sozialfall in einer Gesellschaft, deren soziale Netze zukünftig immer weniger auffangen können“ (S. 9), markiert sie ihre Ausgangsposition.

In vier Teilen - „Der Fluch der späten Geburt“, „Der soziale Countdown“, „Die Mär von der Leistungsgesellschaft“ und „Im Sturzflug in die Realität“ - untersucht sie die beängstigende gegenwärtige Situation. Es ist ein typisches zivilisationskritisches Buch, in dem Heidi Schüller sowohl zu größerer Selbstkritik und Eigenverantwortung als auch zu umfassenderer sozialer Verantwortung der gesamten Gesellschaft aufruft. „Wer nur auf die Politik wartet, ist angeschmiert. Das gilt besonders für die Jugend. Wir müssen lernen, unser Schicksal auch wieder partiell selbst in die Hand zu nehmen. Statt aber die Krise als Chance zu begreifen, ergeht man sich landauf, landab immer noch in larmoyantem Gejammere. Verbände und Gewerkschaften, Parteipolitiker und ihre Hofschranzen bei den Medien überbieten sich in Wehklage. Doch Analyse ist jetzt notwendig, und zwar schonungslos. Sie ist unabdingbar, um den Handlungsdruck zu verdeutlichen. Denn Handeln ist angesagt, so schnell wie möglich, politisch und individuell“ (S. 56), lautet, auf kürzesten Nenner gebracht, eines ihrer wichtigsten Axiome.

Die Gesellschaftskritik - speziell an der „Mär“ von der Leistungsgesellschaft - überwiegt bei Heidi Schüller. Allerdings wird diese sehr bedenklich, wenn sie mit einer pauschalen Duldung von „Sozialkürzungen“ wie in den USA, einer Herabminderung der sozialen Verantwortung des Staates oder gar - wie es an einer Stelle heißt - einem „Ende der sozialen Gaukelei“ (S. 67) einhergeht. An anderer Stelle konstatiert Heidi Schüller: „Die Standards, an die wir uns gewöhnt haben, entsprechen schon lange nicht mehr der Wirtschaftskraft unserer Erwerbstätigengeneration. Wir finanzieren unsere sozialen Leistungen seit Jahren auf Pump. Damit muß jetzt endgültig Schluß sein. Ein ausgeglichener Staatshaushalt sollte, wie neuerdings in den USA, Verfassungsgebot werden.“ (S. 129)

Bei der Beantwortung der Frage „Was tun?“ geht Heidi Schüller davon aus, daß es heutzutage keine nationalen Sonderwege für die Regelung der Zukunft mehr gibt: „Die internationalen Währungsverflechtungen, die Gesetze der Globalisierung machen es fast unmöglich, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Bleibt vorläufig vor allem die Konsolidierung der nationalen Budgets und eine Strukturreform der Sozialsysteme“ (S. 173), schlußfolgert sie daraus. Um das „drohende Desaster“ zu mildern und die Belastungen der künftigen Generationen wenigstens halbwegs gerecht zu verteilen, empfiehlt sie drei Schritte:

  1. Eine vollständige Offenlegung der Staatshaushalte (Einnahmen wie Ausgaben) inklusive der zu erwartenden Zukunftskosten (generational accounting) sowie eine detaillierte Auflistung sämtlicher „Sondervermögen“, „Sonderfonds“ und Schattenhaushalte.
  2. Ein Verfassungszusatz, der die jährliche Etatausgeglichenheit der öffentlichen Haushalte vorschreibt sowie klar definierte, enge Obergrenzen für die Staatsverschuldung verbindlich festlegt.
  3. Eine Änderung des Grundgesetzes bezüglich des „Vertrauensschutzes“. Es kann nicht sein, daß ein Vertrauensschutz nur rückwirkend für versprochene oder bereits realisierte Besitzstände der älteren Generation gilt und gleichzeitig das „Vertrauen“ unserer Kinder auf eine lebenswerte und selbstbestimmte Zukunft untergräbt, argumentiert sie (S. 175).

Als Ansätze für ein politisches Konzept schlägt sie zwei Seiten (S. 176/177) mit konkreten Maßnahmen vor, unter anderem:

Eine deutliche Senkung der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung bei gleichzeitiger Begrenzung der solidarisch finanzierten Leistungen auf „zwingend notwendige Diagnostik und Therapie“; Erhöhung des Renteneintrittsalters mit deutlichen Abschlägen bei vorzeitigem Ausstieg; eine sofortige Kürzung der Verwaltungskosten aller Sozialversicherungen um mindestens 30 Prozent; Reduzierung der direkten Steuern (geplant); steuerliche Freistellung der Beiträge für Vorsorgeleistungen insbesondere für die Jungen und die jüngere Erwerbsgeneration sowie Straffung der Ausbildungszeiten für Berufe.

Ein emotional gehaltener „Brief an meine Kinder“ beschließt das Buch einer engagierten Frau, von dem man nur hoffen kann, daß es von den zuständigen Politikern und Experten gründlich gelesen wird.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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