Eine Rezension von Gisela Reller


Genozid mittels Wein und Wodka?

Juri Rytchëu: Unna

Roman. Aus dem Russischen von Charlotte und Leonhard Kossuth.

Unionsverlag, Zürich 1997, 240 S.

 

Juri Rytchëu lebt seit 1948 im heutigen St. Petersburg, elftausend Kilometer entfernt von seinem Geburtsort Uëlen, dem allerletzten besiedelten nordöstlichen Landzipfel der ehemaligen Sowjetunion. Trotz dieser räumlichen Trennung ist der Tschuktsche Juri Rytchëu für groß und klein auf Tschukotka ein Landsmann geblieben. Warum? Weil alle seine Bücher das arktische Leben Tschukotkas schildern. All die Jahrzehnte kam er Jahr für Jahr zu Besuch hierher; im Ort Prowidenija - mit maximal 40 winterlichen Minusgraden die Klimaperle Tschukotkas - hat er sich ein Haus gebaut.

Rytchëus erste Bücher schildern kenntnisreich und liebevoll das harte Leben der Tschuktschen und asiatischen Eskimos zu Beginn unseres Jahrhunderts - mit ihren Jagdzeremonien, den Opferdarbringungen, ihrer Götterverehrung, dem Schamanentum... In Deutsch erschien Rytchëus erstes Buch 1954 im Verlag Kultur und Fortschritt. Mich faszinierten seine Bücher so, daß ich alle journalistischen Hebel in Bewegung setzte, das ferne Tschuktschenland kennenzulernen, es gelang mir 1980.

Auch in seinem Buch Die Suche nach der letzten Zahl (1984) bleibt Rytchëu historisch: Er erzählt von einer Begegnung des norwegischen Polarforschers Roald Amundsen mit dem Volk der Tschuktschen.

Wie ein Paukenschlag mutet da sein neuestes Buch Unna an. Rytchëu muß es Mitte/Ende der achtziger Jahre geschrieben haben; erschienen ist es in Russisch 1992. Da gab es Perestroika und Glasnost, und man mußte sich nicht mehr in die Geschichte flüchten.

Unna - das heißt Tundrabeere - ist ein Tschuktschenmädchen, das ins Internat geschickt wird, um zu lernen. Vor allem Russisch. Nach anfänglichem Heimweh findet sie Gefallen an der Zivilisation. Bald schon schämt sie sich ihrer Herkunft und ihrer Muttersprache. Sogar ihren liebevollen Vater, der ihr regelmäßig Geld schickt und sie sehnsuchtsvoll besuchen kommt, stößt sie mitleidslos von sich. Sie schämt sich seiner. Unna, hübsch und gelehrig, bringt es weit: Komsomol, Bezirkskomitee, Exekutivkomitee.

Sie ist mächtig auf Tschukotka, genießt als selbstverständlich Sonderrechte, Sondervergünstigungen, Sonderversorgung. Alle politischen Ungereimtheiten, die ihr durchaus auffallen, weiß sie zu beschönigen. Wenn es gar nicht anders geht, muß der amerikanische Klassenfeind herhalten, der, nur durch die 80 Kilometer breite Beringstraße von Tschukotka getrennt, auf Alaska „dahinvegetiert“. Auf der Höhe ihrer Karriere - sie ist für die Wahl zur Deputierten des Obersten Sowjets im Gespräch - verliebt sie sich in einen Musiklehrer. In einen jüdischen. Ausgerechnet. Im von Antisemitismus niemals freien Sowjetland läßt ihr die Partei das nicht durchgehen. Man macht ihr unmißverständlich klar, daß aus der Hochzeit nichts werden kann und daß sie ihrer beider Kind abtreiben lassen muß, wenn sie die Karriereleiter weiter erklimmen will. Sie will - obwohl sie den jüdischen Musiklehrer von ganzem Herzen liebt. Doch ihre abstoßend schnelle Bereitschaft, ihre Liebe zu verraten und das Kind abzutreiben, auf das sie sich eigentlich freut, hilft ihr schon nichts mehr. Man zieht ihr eine andere Tschuktschin vor, eine aus Magadan, die außer Russisch auch ihre Muttersprache beherrscht. Augenblicklich macht sich das gut, vor allem vor dem Ausland.

Unna, die ihren Vater auch wegen seines ständigen Wermutgestanks angeekelt verleugnete, ihn ins Altersheim abschob, ohne sich um ihn zu kümmern, ja, ohne auch nur an ihn zu denken, beginnt aus Verzweiflung selbst zu trinken. Oft tagelang hintereinander. Zuletzt verdient sie ihr Brot als Pförtnerin.

Eine Tschuktschenfrau, die das Mitleid des Lesers verdient? Vielleicht. Meines hat sie nicht. Für mich ist sie von Rytchëu zu scheuklappengläubig und gemein angelegt. Überhaupt spielen in dem Buch nur machtgierige Funktionäre eine Rolle und stockbesoffene Einhei- mische, „die sich bis zur Bewußtlosigkeit betranken, sich dann in Gräben, Hinterhöfen und Müllgruben wälzten“. Nicht ohne Grund, das wird aus dem Buch klar, sondern weil viele Rentierzüchter arbeitslos sind, ehemalige Meerestierjäger selbst keine Jagd mehr auf Wale machen dürfen, traditionelle Fischer, weil zwangsumgesiedelt, nicht mehr fischen können, weil das Meer nicht mit umgesiedelt wurde. Ich weiß, daß es zu unzähligen Selbstmorden kam, zu fürchterlichem Alkoholismus. Aber ich sah bei meinem Aufenthalt auf dem exotisch-önen Tschukotka durchaus auch normale Einheimische, die sowohl ihrer traditionellen Arbeit als Rentierzüchter nachgingen als auch moderner Tätigkeit als Goldwäscher oder sogar als geschätzte Mitarbeiter im Atomkraftwerk von Bilibino. Aber in Unna wird pauschal alles an der Sowjetmacht verteufelt, auch die Geburt einer eigenen Schriftsprache von Tschuktschen und asiatischen Eskimos, auch die Quote, mit der Vertreter der einheimischen Bevölkerung eines Studienplatzes sicher sein konnten, auch die Versorgung über den Nördlichen Seeweg mit allem, was die Bevölkerung Tschukotkas benötigte. Es ist wahr, die Rundum-Fürsorge des Staates zerstörte viele traditionelle tschuktschische und eskimoische Le bensgewohnheiten. Als die Sowjetunion unterging und kein Geld mehr für die kleinen Nordvölker da war, wußten viele schon nicht mehr, wie sie sich traditionell selbst ernähren können, hatten viele verlernt, sich mit dem zu behelfen, was das Tschuktschenland durchaus in reicher Fülle bietet. Juri Rytchëu ist Vorsitzender der UNESCO-Kommission zur Bewahrung und Entwicklung der Kultur arktischer Völker - er muß wissen, wovon er schreibt...

Mir scheint, daß Tschuktschen und asiatische Eskimos vom diktatorischen russischen Regen in die demokratische westliche Traufe gekommen sind. Die Lebensbedingungen sind eher schlechter geworden, und die von Rytchëu angemahnten nationalen Gefühle von 12000 Tschuktschen und 1200 asiatischen Eskimos haben weniger Platz denn je. Juri Rytchëu ist nach diesem Buch geradezu verpflichtet, nun auch ein Buch über die u n m i t t e l b a r e Gegenwart zu schreiben.


© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de

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